Wichtiges Ritual für Kinder: „Besser fünf Minuten vorlesen als gar nicht“
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30 Prozent aller Eltern lesen ihren Kindern so gut wie nie vor. Das sollte sich dringend ändern, sagt Prof. Simone Ehmig.
© Quelle: Daniela Rey/Unsplash
Frau Prof. Ehmig, in der Vorlesestudie 2020 haben Sie untersucht, warum manche Eltern nicht vorlesen. In wie vielen Familien werden denn überhaupt Geschichten vorgelesen?
In knapp 70 Prozent der Familien geschieht das regelmäßig, also mehrmals in der Woche oder sogar jeden Tag. Doch ein Drittel der Eltern, deren Kinder zwischen zwei und acht Jahren alt sind, macht das selten oder nie.
Woran liegt das?
Das hat mehrere Gründe. In vielen dieser Familien spielt Lesen insgesamt kaum eine Rolle. In den Kinderzimmern gibt es im Vergleich zum Durchschnitt weniger Bücher. Natürlich kann man auch mit wenigen Büchern vorlesen und Geschichten erzählen, aber das passiert eben nicht. Viele der Mütter und Väter sagen aber: Wir würden uns freuen, wenn unsere Kinder mehr Bücher geschenkt bekämen und wenn wir preiswerte Bücher auch in Supermärkten kaufen könnten. Eltern mit Migrationshintergrund wünschen sich auch Geschichten in ihrer Heimatsprache. Das alles signalisiert durchaus eine gewisse Offenheit fürs Vorlesen.
Andererseits kann man doch in jeder Buchhandlung oder im Netz Bücher kaufen.
Buchhandlungen und Bibliotheken sind unverzichtbar! Jedoch werden viele der Eltern, die wir befragt haben, von sich aus den Schritt dorthin zunächst nicht tun. Die Geschichten müssen ihnen möglichst überall dort begegnen, wo sie im Alltag sind – zum Beispiel im Supermarkt, als Buchgeschenke oder kurze Gratisgeschichten, die in Ämtern, Beratungsstellen, beim Arzt oder in der Apotheke ausliegen. Und natürlich müssen wir digitale Wege nutzen wie etwa unser Geschichtenportaleinfachvorlesen.de.
Aber scheitert das Vorlesen nicht eher daran, dass es Eltern an Zeit fehlt?
Das ist ein wichtiger Grund. Unter Eltern, die wenig oder gar nicht vorlesen, sind überdurchschnittlich viele Alleinerziehende. Viele Eltern sind in ihrem beruflichen Alltag stark gefordert, sie arbeiten zum Teil im Schichtbetrieb und haben körperlich anstrengende Jobs. Die Vorstellung, nach einem harten Tag auch noch vorzulesen, überfordert viele. Viele Eltern wollen aber auch gar nicht vorlesen.
Wieso das denn nicht?
Manche Mütter und Väter sagen etwa, dass ihr Kind ja schon in der Kita vorgelesen bekommt. Ihnen selbst macht das Vorlesen häufig keinen Spaß, und viele finden es nicht so wichtig. Außerdem meinen viele Eltern, dass sie nicht so gut vorlesen können. 15 Prozent der Eltern sagen sogar, dass ihnen das Lesen insgesamt schwerfällt. Das ist ein realistischer Wert, der uns deutlich zeigt, dass nicht alle Mütter und Väter überhaupt die Voraussetzung haben, auch einfache Texte zu verstehen. Einige Eltern meinen auch, dass man ihrem Kind gar nicht vorlesen könne – es sei zu unruhig, höre nicht richtig zu oder sei noch zu klein dafür.
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Prof. Simone Ehmig leitet das Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen in Mainz. Die 56-Jährige ist studierte Kommunikationswissenschaftlerin und hat zahlreiche Beiträge und Bücher über Leseförderung und das Lesen in der Zukunft veröffentlicht.
© Quelle: Privat
Können Kinder dafür zu klein sein?
Nein, mit ersten Vorstufen des Vorlesens kann man anfangen, sobald das Kind auf der Welt ist. Hier geht es natürlich noch nicht um ganze Texte, sondern das Betrachten von Bildern, erste Wörter und Reime, das spielerische Begreifen von Büchern. Und was die Unruhe betrifft: Vorlesen ist keine kommunikative Einbahnstraße, sondern lebt gerade vom Austausch zwischen Eltern und Kindern. Kinder selbst lieben das und bekommen oft nicht genug davon. Die Vorstellung der Eltern, die wir befragt haben, ist aber eine andere – und das hält sie davon ab. Was Folgen für die Kinder hat, denen das Vorlesen fehlt.
Welche denn? Warum ist das Vorlesen so wichtig?
Es fördert die Entwicklung des Kindes auf vielen Ebenen: den Wortschatz und die sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Kinder, denen vorgelesen wird, lernen später leichter lesen und sind besser in der Schule. Vorlesen stärkt aber auch die Bindung zwischen Eltern und Kindern. Es fördert die Persönlichkeitsentwicklung – und es ist gut für die sozialen Kompetenzen.
Es ist ja neben all den Lernaspekten schade, wenn Eltern auf das Verbindende, auf das Emotionale des Vorlesens verzichten.
Sie verzichten ja nicht auf etwas, das sie selbst so positiv erlebt hätten. Da ihnen die Erfahrung häufig fehlt, halten sie Vorlesen für eine Notlösung, die andere einsetzen, um Kinder zu beschäftigen oder zum Einschlafen zu bringen. Hier müssen wir Ansatzpunkte finden, um zu zeigen: Bilderbücher betrachten, Geschichten erzählen und vorlesen kann jeder, und man kann es mitten im Alltag umsetzen, ohne großen Aufwand. Fünf Minuten genügen, und man kann es verbinden mit Dingen, die Eltern bereits zusammen mit ihren Kindern machen, etwa dem Malen oder Basteln.
Wieso ausgerechnet beim Basteln?
Wenn Familien spielen, malen oder basteln, geht es oft um Figuren, Orte oder Situationen, die dargestellt werden. Zu denen kann man kleine Geschichten erfinden und erzählen. Zahlreiche Bücher, auch Bilderbücher greifen Figuren aus Filmen oder Serien auf, die Kinder und Familien gern anschauen. Peppa Pig oder Figuren aus „Paw Patrol“ gehören zum Leben vieler Kinder dazu, und sie bieten einen tollen Einstieg auch in Geschichten und das Vorlesen – wie natürlich die gesamte Vielfalt der Verlagsangebote, die Bibliotheken und der Buchhandel bereithalten.
Zum Leben kleiner Kinder gehören oft schon digitale Medien. Kann die Vorlese-App, der Podcast oder die Lernsoftware das Vorlesen der Eltern ersetzen?
Wenn Vorlese-Apps wie einfachvorlesen.de Geschichten zur Verfügung stellen, die Eltern vom Tablet oder Smartphone vorlesen können, dann ist das genauso gut und wertvoll wie das Vorlesen aus einem gedruckten Buch. Hörbücher und Geräte, die Geschichten vorlesen, haben unbedingt auch ihren Platz im Alltag der Kinder, sie ersetzen das Vorlesen der Eltern aber nicht. Entscheidend sind die Nähe und der Austausch, den ein technisches Gerät allein nicht bieten kann.
Lesen in diesem Corona-Jahr, in dem wir alle mehr Zeit zu Hause verbringen und uns nahe sind, Eltern ihren Kindern häufiger vor?
Während des Lockdowns im Frühjahr haben viele der Familien, die wir für unsere Studie befragt haben, das tatsächlich häufiger als vorher getan. Doch haben die meisten von ihnen anschließend wieder deutlich weniger oder gar nicht vorgelesen.
Wie kann man Eltern ermuntern und ermutigen, mehr vorzulesen?
Grundsätzlich gilt: Fünf Minuten vorzulesen ist besser als gar nicht. Und wenn sich feste Zeiten und Rituale, zum Beispiel vor dem Einschlafen, zunächst nicht realisieren lassen, kann es auch mal zwischendurch sein. Entscheidend ist, dass Eltern entdecken, wie unkompliziert Vorlesen Teil des Familienlebens werden kann.
Die besten Bücher zum Vorlesen
Am 20. November ist Vorlesetag, aber natürlich kann man auch an allen weiteren Tagen des Jahres vorlesen und sich gemeinsam Bilder anschauen. Ein paar Tipps der Stiftung Lesen:
Antje Damm: „Der Wolf und die Fliege“. Dieser Wolf ist sehr hungrig und putzt alles weg, was auf dem Regal steht. Im Frühjahr ausgezeichnet mit dem Leipziger Lesekompass (Moritz-Verlag, 22 Seiten, 8,95 Euro). Ab zwei Jahren.
Disney: „Die Eiskönigin II: Olaf in der Bücherei“. Immer mal was Neues: Schneemann Olaf arbeitet jetzt in der Stadtbücherei (Nelson-Verlag, 32 Seiten, 7,99 Euro). Ab drei bis vier Jahren.
John Hare: „Ausflug zum Mond“. Ein Bilderbuch ohne Worte für kleine Entdecker, ausgezeichnet mit dem Leipziger Lesekompass (Moritz-Verlag, 48 Seiten, 14. Euro). Ab vier Jahren.
Nele Moost/Annett Rudolph: „Alles schläft?“ Gute-Nacht-Geschichten vom keinen Raben Socke, der sich ganz schön viel traut (Esslinger-Verlag, 64 Seiten, 13 Euro). Ab vier Jahren.
Markus Osterwalder: „Mit Bobo Siebenschläfer durch das Jahr“. Der Sammelband liefert jede Menge Vorlesestoff für ganz Kleine: kurze und sehr einfache Texte (Rowohlt-Verlag, 352 Seiten, 24 Euro).