Mütter als Hilfslehrerinnen: Hilfe, mein Kind kommt in die Schule!
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Wenn ein Kind ungern lernt, kann das die ganze Familie stressen.
© Quelle: Rob Byron - stock.adobe.com
Bis Weihnachten müssen die Kinder einigermaßen lesen können. Und deshalb müssen Sie üben, üben, üben. Jeden Tag mindestens 15 Minuten, besser mehr“, sagt die Klassenlehrerin auf dem Elternabend der Erstklässler. Noch ahnt Anke Willers nicht, dass mit „Sie“ nicht nur die Kinder gemeint sind, sondern auch die Eltern. Genauer gesagt die Mütter. Weil in Deutschland etwa jede zweite Frau halbtags arbeitet und die Hausaufgabenbetreuung in ihren Aufgabenbereich fällt. Anke Willers blättert also täglich im Mitteilungsheft ihrer Tochter. „Greta liest die neuen Wörter zu stockend und muss mehr üben“, steht da. Mutter und Tochter üben: „Oma ist am Lamm. Ali ist am Ast.“ Heute kann Willers zumindest über die Interpretationsmöglichkeiten der Sätze im Leseheft lachen. „Warum war Oma am Lamm? Zum Streicheln, zum Kochen oder musste sie ihre Rente aufbessern und arbeitete in der Frischfleischabteilung?“, fragt sie lakonisch in ihrem Buch. Es trägt den Titel: „Geht’s dir gut oder hast du Kinder in der Schule?“
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Gemeinsames Üben: Geschrei am Nachmittag
„Ida wendet die erlernte Abschreibtechnik noch nicht konsequent an. Auch zu Hause sollte sie vorher an die Abfolge der einzelnen Schritte erinnert werden“, steht im Zwischenzeugnis der Tochter. Beide Töchter gehen ab der fünften Klasse auf die Realschule, sind aber keine Selbstläufer. Um die Klassenarbeiten zu bestehen, brauchen sie Hilfe von der Mutter. Das gemeinsame Üben führt zu Vokabelheften, die an die Wand fliegen, und Geschrei. Trotzdem entsprechen die Noten nicht dem Aufwand. Die Mutter weiß nicht, wie sie die Enttäuschung ihrer Kinder auffangen soll. Und manchmal ist sie selbst noch enttäuschter. Stimmt irgendwas nicht mit unseren Kindern? fragen sich die Eltern. Ein Gespräch mit dem Schulpsychologen, eine Dyskalkulietestung und ein IQ-Test bringen keine wirklichen Erkenntnisse.
Schulstress und Leistungsdruck bestimmt Familienleben
Laut der Studie „Eltern – Lehrer – Schulerfolg“ der Katholischen Stiftungsfachhochschule München bestimmen Schulstress und Leistungsdruck bei vielen Familien den Alltag. Eltern haben das Gefühl, sie müssten sich entscheiden: entweder den Kindern eine unbeschwerte Jugend ohne Lernstress ermöglichen oder auf vielseitige Berufschancen setzen. „Ist es wirklich meine Aufgabe, Rechtschreibung, Mathe, Englisch zu pauken?“, fragt sich Anke Willers und stellt bei ihren Buchrecherchen fest, dass viele Mütter wegen der schulischen Anforderungen ihre ohnehin reduzierten Stellen noch weiter reduzieren und sogar auf Führungspositionen im Beruf verzichten. Dies bestätigt auch Bildungsexpertin Katja Wippermann, die an der Studie beteiligt war: „Wir haben eine Schulkultur, die Frauen schwächt, traditionelle Rollenmuster zementiert und der Gleichberechtigung entgegenwirkt.“
Wie ist das möglich, wo doch die meisten Schulen Nachmittagsbetreuung mit Hausaufgabenhilfe und Extraförderung anbieten? Ilka Hoffmann von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft kennt aus ihrer Zeit als Lehrerin überehrgeizige Mütter, unselbstständige Kinder, aber auch Lehrer, die sich mit vielen Hausaufgaben Autorität verschaffen wollen. „Das Problem sind nicht nur die vielen Hausaufgaben, sondern vor allem die anspruchsvollen Klassenarbeiten, mit denen sozial selektiert wird“, sagt sie.
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Selbstständig lernen - nicht der Mutter zuliebe
Weil Mütter ihre Kinder vor der Selektion bewahren wollen, leisten sie zu Hause, was Lehrer während des Unterrichts nicht schaffen. „Das darf nicht sein“, sagt Hoffmann. „Eltern können ihren Kindern zeigen, wann und mit welchen Mitteln gelernt wird, und sind bestenfalls für Nachfragen da. Aber ein Kind muss spätestens im zweiten Schuljahr verstanden haben, wie und dass es selbstständig lernt. Nicht der Mama zuliebe, sondern weil es die Schule selbst schaffen will.“ Klappt das nicht, müsse über eine andere Schulform nachgedacht werden. „Sonst entsteht mit der Zeit eine erlernte Hilflosigkeit: Kinder gewöhnen sich daran, dass Mütter die Verantwortung für ihren Schulstoff übernehmen, genießen vielleicht sogar die Zuwendung, die sie während der gemeinsamen Hausaufgabenzeit bekommen, und selbst die Streiterei wird unbewusst zum Ritual.“
Ein Kind muss im zweiten Schuljahr verstanden haben, wie es selbstständig lernt.
Ilka Hoffmann, ehemalige Lehrerin
Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick ins Ausland: In Kanada und Finnland etwa gehen leistungsstarke und -schwache Kinder gemeinsam zur Schule, es gibt dort ausschließlich Gesamtschulen. „Wir sind in Deutschland schulisch gesehen im 18. Jahrhundert hängen geblieben – zum Leidwesen der Kinder“, kritisiert Hoffmann. Weil Bildungsforscher monieren, dass der Schulerfolg eines Kindes vorrangig vom Elternhaus abhängt, empfinden viele Eltern jede Schulform außer dem Gymnasium als Niederlage. Sie rät: Schwäche nicht kaschieren, sondern Hilfe erbitten. Statt Nachhilfestunden zu zahlen, könnte man im Klassenverband schauen, ob die Kinder sich gegenseitig unterstützen wollen.
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Job der Eltern: Mut machen, kein Druck aufbauen
Lehrer weisen schon mal darauf hin, dass ein Kind, sofern es im Unterricht konzentriert ist, nach der Schule überhaupt nicht lernen muss. Man möchte es glauben. Wäre es nicht so, dass sämtliche Eltern an den Wochenenden Diktate üben und in den Ferien Fremdsprachencamps buchen. Und wäre da nicht das zweiseitige Dokument der Mutter des Klassenbesten, auf dem die wichtigsten Fakten für die nächste Klassenarbeit in verständlicher Sprache zusammengefasst worden sind. Von der Mutter, weil der Sohn auf den Arbeitsblättern, die zur Vorbereitung der Klassenarbeit mit nach Hause gegeben wurden, nur Bahnhof verstand.
Buchautorin Anke Willers klinkte sich ab Klasse neun aus dem Hilfslehrerjob aus und mutierte wieder zur Mutter, die Mut macht – aber nicht mitlernt. Die Ältere bestand gerade auf Umwegen das Abitur und sagt heute: „Ich habe gelernt, wie man lernt, und weiß, wie man Hindernisse überwindet. Aber ohne euch, Mama, Papa, hätte ich das nicht geschafft.“
Infos zum Buch
Anke Willers ist berufstätige Mutter von zwei Mädchen. „Wer heute sein Kind einschult.“ sagt sie, „wird als Mutter gleich mit eingeschult“. In ihrem Buch „Geht’s dir gut oder hast du Kinder in der Schule? Was der Schulwahnsinn mit uns und unseren Kindern macht und wie wir ihn überleben – eine Mutter erzählt“ (Heyne-Verlag, 208 Seiten, 14,99 Euro), berichtet sie anschaulich von der Schulzeit ihrer Töchter und wie sie im Lauf der Zeit mehr und mehr zur verzweifelten Hilfslehrerin mutierte.
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In ihrem neuen Buch geht Willers auch der Frage nach, warum Schule heute so kompliziert ist und wie man sich als Eltern ein Stück Gelassenheit im Umgang mit Noten und Zukunftsängsten zurückholt.
© Quelle: Heyne-Verlag