Bloß keinen Stress im Wald
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Gefällt nicht jedermann im Wald: Mountainbiking.
© Quelle: Getty Images/iStockphoto
Mancher kann einfach nicht genug davon bekommen. Vom Blätterrauschen im Sommerwind, vom Rascheln des Herbstlaubes unter den Füßen, vom Knacken der Bäume bei Frost. Und vom Frühjahrsgrün natürlich, das in diesem Jahr so gut getan hat wie schon lange nicht mehr.
Süchtig nach Wald? Es gibt Schlimmeres in diesem Corona-Jahr, das die Menschen in Scharen ins Grüne getrieben hat. Die Natur ist schließlich der einzige Raum, der von Beschränkungen verschont geblieben ist. Keine Masken weit und breit, keine Abstandsregeln.
Der Wald als Rückzugsraum
Viele Deutsche haben den Wald als Rückzugsraum schätzen gelernt, als in den Städten nicht mehr viel ging. Wo sonst auch sollte Distanz besser möglich sein? Immerhin ist Deutschland zu gut einem Drittel mit Wald bedeckt, das ist eine Fläche von mehr als 100.000 Quadratkilometern – Tendenz (neuerdings wieder): wachsend.
Gut die Hälfte des deutschen Waldes wird unter staatlicher Regie bewirtschaftet, die andere Hälfte ist in Privatbesitz. In der Regel aber sind dies keine Einzelpersonen, sondern Genossenschaften, Stiftungen oder Kirchen. Den Übergang zwischen einem Staatsforst und einem Genossenschaftswald wird kein Wanderer bemerken – Privatwald muss in Deutschland in der Regel frei zugänglich sein. Anders als etwa in den USA gilt in Deutschland das freie Betretungsrecht: Besucher dürfen zu jeder Tages- und Nachtzeit in den Wald gehen, die Wege nutzen und auch querfeldein stöbern. Besondere Regeln gelten nur in Naturschutzgebieten oder in den Nationalparks.
Der Wald sollte also genug Platz für Menschen bieten, die in der Natur auftanken wollen. Und doch kann ein Tag im Forst einen Stresstest der besonderen Art bieten – gesellschaftliche Konflikte sind längst auch dort angekommen, wo sich eigentlich Fuchs und Hase gute Nacht sagen sollen.
Kleinkrieg zwischen Wanderern und Mountainbikern
Auf beliebten Routen tobt seit Jahren ein Kleinkrieg zwischen Wanderern und Mountainbikern. Seit der Elektroantrieb auch bei sportlichen Fahrrädern immer beliebter wird, begegnen sich Biker und Wanderer an Stellen, die früher nur den besonders Sportlichen vorbehalten waren. Das Ergebnis ist die Sperrung von ganzen Wegstrecken etwa im Allgäu, das in diesem Corona-Sommer von Besuchern buchstäblich überrannt wurde.
Tierschützer und Jäger liegen ebenfalls seit einiger Zeit im Clinch, das gegenseitige Verständnis wird zunehmend schwächer, die Aggressivität wächst. Jäger loben hohe Belohnungen aus, um Tätern auf die Spur zu kommen, die Hochsitze ansägen und damit schwere Unfälle verursachen können. Naturfreunde dagegen ärgern sich, dass die „Heger“ jeden Abend mit dem SUV durch den Wald donnern und bis knapp unter den Hochsitz fahren. Viele Hundefreunde bringen auf der anderen Seite die Jäger zur Verzweiflung. Die Hunde werden – man ist ja im Wald – gern von der Leine gelassen und jagen Rehe bis in den Tod. Höfliche Bitten, so beklagen Förster und Jäger, finden bei den Hundebesitzern immer seltener Gehör.
Vor allem jene Menschen, denen der Wald schon lange vertraut ist oder die von der Forstwirtschaft leben, blicken zunehmend irritiert auf die Freizeitwelle, die da an schönen Sonnentagen auf sie zurollt. Sie finden es schön, dass das Sachbuch eines früheren Forstwirts monatelang die Bestsellerlisten anführt. Aber muss man wirklich darüber philosophieren, ob Bäume in einer geheimen Sprache miteinander kommunizieren?
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Der Anteil der Waldflächen in Deutschland.
© Quelle: RND
Unwiderstehliche Walderlebnisse
Jede Urlaubsregion, die eine größere Anzahl von Bäumen aufzuweisen hat, wirbt inzwischen mit unwiderstehlichen Walderlebnissen, und jeder Kurort, der etwas auf sich hält, hat inzwischen ein Angebot zum Waldbaden im Wochenprogramm.
Waldbaden? Der Trend kommt aus Japan und verspricht eine heilende Wirkung des Waldes. Dass dieser den Menschen guttut, ist unbestritten. Aber helfen Buchen und Birken wirklich auch bei Krankheiten? Wissenschaftler aus Deutschland und Österreich erforschen inzwischen das Phänomen. Annette Bernjus, Deutschlands prominenteste Waldbademeisterin, gibt in ihrem Anleitungsbuch eine einfache Erklärung: „In einer natürlichen Umgebung entspannen sich die meisten Menschen viel schneller. Im Wald sitzen sie zehn, zwanzig Minuten still auf einem Baumstumpf, dort spüren wir unser existenzielles Bedürfnis nach Natur.“
Der Wald ist ein Sehnsuchtsort, ein Freizeitparadies, ein Corona-Refugium und nun auch ein Behandlungszimmer für Naturmedizin. Der Wald ist auch Deutschlands wichtigstes Natur- und Klimaprojekt. Und er ist, was gern vergessen wird, ein riesiger Holzwirtschaftsraum. Passt das noch zusammen?
Waldbaden versus Waldbauern
Die bayerische Bestsellerautorin und Naturschützerin Nicola Förg lässt in ihrem jüngsten Alpenkrimi „Flüsternde Wälder“ die unterschiedlichen Interessengruppen direkt aufeinander los. Da stürzen Mountainbiker über aufgespannte Drahtseile, da werden meditierende Waldbader von Traktoren der Waldbauern überrollt. Das alles frei nach dem Motto: Der Wald ist nur noch für die Toten ein Ort der Ruhe.
Der Druck auf den Freizeitraum wird immer größer.
Nicola Förg,
Naturschützerin und Krimiautorin
Für Autorin Förg hat das alles einen durchaus realen Hintergrund, sie lebt auf einem kleinen bayerischen Hof. „Wir Landeier spüren es“, schreibt Förg. „Der Druck auf den Freizeitraum wird immer größer.“ Die Schönheit des Waldes lasse sich aber nur bei gegenseitiger Rücksichtnahme erhalten.
Tatsächlich sollte die Sorge um die Zukunft des Waldes etwas sein, das alle verbindet, die derzeit unter Baumwipfeln ihr Heil suchen. Man mag sich bei jedem Waldbesuch so lebendig fühlen wie sonst nirgendwo – das große Sterben im Wald aber kann niemandem entgehen. Riesige Fichtenbestände stehen seit dem Frühjahr abgestorben da, an den Wegrändern stapeln sich gigantische Mengen als Totholz.
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Aufgrund der trockenen Sommer sowie des Borkenkäfers sterben im Harz bei Königskrug große Waldflächen an Fichten ab.
© Quelle: imago images/argum
Die Schäden des Borkenkäfers
Die Forstbetriebe haben die ganze Vegetationsperiode durchgearbeitet, um die gröbsten Schäden zu beseitigen, die der Borkenkäfer hinterlassen hat. Schon im Dürrejahr 2018 haben die Wälder mächtig gelitten. In diesem Jahr hat es in den meisten Regionen nicht genug geregnet, um die Wasserspeicher in der Tiefe aufzufüllen, die vor allem ältere Bäume brauchen. Nach den Fichten sind nun auch die Buchen in Gefahr.
Es herrscht bisweilen Stress im Wald – und der Wald selbst hat Stress. Doch es hilft wenig, über das „Waldsterben“ zu philosophieren. Für die Natur geht es erst mal um eine Anpassung an den Klimawandel. Die Fichte ist in vielen Regionen ein Industrieholz, massenhaft angepflanzt, weil es schnell wächst und damit Ertrag bringt. Wenn die Fichte jetzt etwa aus den Mittelgebirgen verschwindet, dann ist das ökologisch betrachtet keine Katastrophe – vorausgesetzt, die geschädigten Flächen werden mit robusten Baumsorten wieder aufgeforstet.
Überangebot an Holz aus dem Wald
Die Forstwirtschaft aber sieht sich überfordert: Auf der einen Seite hat sie wegen des Preisverfalls durch das Überangebot von Holz auf dem Markt herbe Verluste hinzunehmen, zugleich muss sie Millionen in Setzlinge für die Wiederaufforstung investieren. Bund und Länder investieren in den nächsten Jahren 1,5 Milliarden Euro in den Wald. Fachleute aber bezweifeln, dass das reicht. Denn wer wirklich einen ökologischen Wandel will, der darf den Wald nicht mehr vorrangig als Wirtschaftsfaktor sehen.
Wiederaufforstung ist ein Generationenprojekt, und die Rettung des Erholungsraums Wald könnte ein neues Gesellschaftsprojekt werden. „Zum Erhalt des Waldes kann jeder von uns beitragen“, sagt Bundesagrarministerin Julia Klöckner. Zu den Deutschen Waldtagen an diesem Wochenende hat sie Prominente und Bürger aufgefordert, ihre Unterstützung für das „grüne Herz“ zu posten.
Mit Liebeserklärungen im Netz ist es aber nicht getan. Erste Kommunen haben gute Erfahrungen mit Pflanztagen gemacht: Am Samstagnachmittag treffen sich Jogger, Mountainbiker und Waldbader, um zusammen mit dem Förster Setzlinge zu pflanzen, die örtliche Unternehmen gespendet haben. Am nächsten Wochenende begegnet man sich dann vielleicht schon mit mehr Respekt. Dem anderen gegenüber und der Umgebung gegenüber, die so viel zu bieten hat.