Sterneküche statt Weißwurst: Bayern erlebt ein kulinarisches Upgrade
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Was anderes als Haxn: Gamberoni, Karotte und Kürbis von Spitzenkoch Jan Hartwig.
© Quelle: Lukas Kirchgasser
Genial an der Vorspeise sind die knackigen, gerösteten Haselnüsse, die den Geschmack von salzigem Kaviar, süßlichen Rumrosinen und cremigem Eierstich am Gaumen zur Vollendung verlängern. Mit jedem Bissen erschließt sich die Komplexität des Gerichts „Chawanmushi & N25 Kaviar“ ein wenig mehr. Nach diesem Auftakt im Drei-Sterne-Atelier im Bayerischen Hof in München fragt man sich unwillkürlich, was jetzt noch kommen soll. Dann fächert Spitzenkoch Jan Hartwig im nächsten Gang die ganzen Facetten einer alten Tomatensorte auf. Oder er treibt Bayerischem Rauchaal und deftigem Schweinebauch alle Derbheit aus, indem er die Zutaten mit würziger Dillcreme und leichtem Aal-Dashi umspielt. Ein Highlight folgt dem anderen.
Hartwig baut aber nicht nur die Geschmacksbilder seiner Kreationen bis zur Perfektion aus, selbst in Fachkreisen ist seine virtuose, präzise Anrichteweise Thema. Kunstvoll, aber nicht gekünstelt geht er vor, wenn er etwa eine gebeizte bretonische Makrele mit Buttermilch und schwarzem Knoblauch überzieht und in einen deftigen, schwarz-weiß gestreiften Riegel verwandelt. Mitte Juli ging ein Raunen durch die Szene, als der Koch erklärte, das Atelier bald zu verlassen. Er wird sich in München im Herbst selbstständig machen. Was sind Hartwigs genaue Pläne? Und wer füllt ab dann die leeren Teller des Ateliers? Beide Seiten schweigen sich noch aus, nur so viel ist sicher: Es steht in den Sternen.
Junge Küche aus dem Süden Deutschlands als Qualitätsmerkmal
Die Situation ist geradezu exemplarisch für das kulinarische München: Schubeck ist insolvent, während drei Kilometer weiter die Köchin Sigi Schelling ihren Einstand feiert. Jahrelang war sie Souschefin des Großmeisters Hans Haas. Im Gourmetrestaurant Tian kocht Paul Ivic vegetarische Küche auf Sterneniveau. Das Restaurant Schwarzreiter schreibt sich „Young Bavarian Cuisine“ auf die Fahne. Und die ausgefuchste Produktküche im Sparkling Bistro wird nicht mehr lange ein Geheimtipp bleiben. In dieser Stadt, die gern mit Schweinsbraten und Maßkrügen auf der einen und Champagner und Austern auf der anderen Seite in Verbindung gebracht wird, brodelt‘s.
Tohru Nakamura betreibt das Pop-up-Restaurant Salon Rouge. „Nach den letzten eineinhalb Jahren suchen Köche vielleicht eher den Weg in die Selbstständigkeit, den sie vorher gescheut haben. Nach dem Motto ‚Jetzt erst recht‘“, mutmaßt der Spitzenkoch. Seine europäische Hochküche mit asiatischen Einflüssen wurde zuletzt mit zwei Sternen bewertet. Dann setzte die Pandemie den Schlussstrich unter seine Wirkungsstätte, den Werneckhof by Geisel. Heimatlos tourte er mit seinem Salon Rouge durch zwei Stationen der Stadt, war damit so erfolgreich, dass er im Oktober wieder sesshaft wird. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Gäste neuen Ideen gegenüber aufgeschlossen sind“, sagt er.
Auf der Suche nach regionalen Spitzenprodukten
Das liegt nicht nur an der bayerischen Metropole. Zwar ist laut der Dehoga in ländlichen Gegenden das Wirtshaussterben in vollem Gang, aber flächendeckend tut sich was in der Küchenszene. Im Pleiskirchener Huberwirt zum Beispiel beweist Alexander Huber, dass eine Traditionsküche sehr wohl in Hochküche übersetzt werden kann. Und im neuen Nürnberger ETZ setzt Felix Schneider seine experimentelle Spitzenküche mit Regionalwaren fort. Im Hotel von Fernsehkoch Alexander Herrmann arbeitet wiederum Tobias Bätz mit fränkischen Tropenfrüchten aus einem Gewächshaus, das mit der Abwärme einer Glasfabrik beheizt wird. Oder auch mit Artischocken aus der Nähe von Würzburg.
Um diese regionalen Spitzenprodukte zu finden, beschäftigt Herrmann einen eigenen Foodscout. Das Kompetenzzentrum für Ernährung (Kern) in Kulmbach bietet Raum für Austausch, Forschung und Entwicklung. Fotograf und Autor Thomas Ruhl hat diese ganzen Entwicklungen sogar in einem eigenen Buch festgehalten. Ein regelrechter Kulinariksog hat also Bayern erfasst, darunter auch manchen Landwirt, Metzger oder Viehzüchter.
Alte Gemüsesorten werden kultiviert, Garnelen in Aquakultur gezüchtet. Wagyu- oder Hereford-Rinder kommen neuerdings aus Niederbayern und Oberfranken. Es gibt Rotenburger Duroc-Schweine, Poltinger Lämmer und Penzinger Süßwasserfische – genug Waren für alle Feinschmecker Bayerns?
Die bayrische Küche 2.0
„Es müssen noch mehr werden“, sagt Matthias Hahn, der erst tags zuvor noch auf Produktsuche im Land unterwegs war. Er steht an diesem Morgen auf der Baustelle des Münchner Tantris neben zwei verpackten Molteni-Herden, den Ferraris unter den Küchengeräten. In den denkmalgeschützten Räumen des Restaurants wurde mit Eckart Witzigmann und Heinz Winkler in den Siebzigerjahren das deutsche Küchenwunder eingeleitet. Jahrzehntelang galt das Lokal unter Hans Haas als sichere Genussbank. Im Oktober soll es nun nach umfassender Renovierung neu eröffnen, mit Hahn als gastronomischem Leiter und einer Hochküche im Doppelpack.
Neben dem Tantris mit wechselnden Menüs aus besten Produkten der Saison wird es ein zweites Lokal geben: Im Tantris DNA liegt der Fokus auf der französischen Klassik. Berühmte Gerichte können hier in ihrer Urform verkostet werden. Darunter Poularde en vessie, ein Bresse-Huhn, gegart in der Schweinsblase, das am Tisch tranchiert wird. Oder Kalbsbries Rumohr von Jahrhundertkoch Witzigmann. „Die Gerichte sind perfekt, wie sie sind, und haben einen festen Platz in der Gastronomie verdient“, ist Hahn überzeugt. Hinter ihm hängen Kabel von der Decke, die Bauerarbeiter wuseln umher. Und nichts steht vielleicht symbolischer für die bayerische Küche als das Tantris an diesem Morgen: Es wird erneuert, was das Zeug hält. Man darf gespannt sein.