“Einmalige Chance”: Wie Corona der europäischen KI-Forschung helfen könnte
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Die Bundesregierung hat die Förderung der KI-Forschung ausgeweitet.
© Quelle: Getty Images/iStockphoto
Herr Hennig, die Bundesregierung hat mit ihrem Konjunkturpaket die Förderung der KI-Forschung auf 5 Milliarden Euro aufgestockt. Warum ist dieses Geld nötig?
Derzeit gibt es einen scharfen Wettbewerb um Fachkräfte, besonders mit den USA. Ein häufiges Missverständnis ist, dass KI-Systeme völlig autonom entstehen, aus einer Blackbox kommen. Genau das Gegenteil ist der Fall: Die Fähigkeiten von KI stehen und fallen mit den Menschen, die sie designen. Aktuell ist der Mangel an Fachkräften dabei das größte Hindernis für den Erfolg und die richtige Gestaltung dieser digitalen Revolution. Die Aufstockung der Förderung war da jetzt ein starkes Signal, über das ich mich natürlich sehr freue. Künstliche Intelligenz soll eine besondere Rolle bei der Förderung der deutschen Wirtschaft spielen und gleichzeitig setzt man auf die europäische Kooperation.
Wie sind Europa und Deutschland als KI-Standorte ins Hintertreffen geraten?
In den vergangenen Jahren war es so, dass die großen Silicon-Valley-Unternehmen – Facebook, Google, Amazon, Apple und Microsoft – einen großen Teil der herausragenden Absolventen mehr oder weniger direkt nach dem Abschluss weggelockt haben. Sie haben Einstiegsgehälter gezahlt und angenehme Arbeitsbedingungen geschaffen, die die deutsche Wirtschaft so nicht bieten konnte oder wollte. Durch diese “Einkaufstour” haben die Forschungsabteilungen der amerikanischen Unternehmen inzwischen eine enorme Größe erreicht: Sie sind größer als alle universitären Fachbereiche auf der ganzen Welt. Aber dadurch bietet sich auch gerade eine einmalige Chance.
Inwiefern?
In der Corona-Pandemie hat die Mehrzahl der US-amerikanischen Unternehmen einen Einstellungsstopp verhängt oder zumindest die Zahl der Neueinstellungen deutlich reduziert. Auch bei den amerikanischen Universitäten sitzen derzeit die Mittel weniger locker. Und schließlich sorgt die andauernde Visa-Debatte dafür, dass viele internationale Studierende doch eher noch einmal überdenken, wie verlockend es ist, in die USA zu gehen. Auf diese Weise ist für Europa eine Chance entstanden, Menschen, die sonst im Silicon Valley arbeiten würden, hierher zu locken beziehungsweise zu halten. Die Mittel, die die Bundesregierung jetzt zur Verfügung stellt, sind eine große Chance, wenn es gelingt, sie an der richtigen Stelle zu investieren.
Wie sähe eine richtige Investition dieser Mittel denn Ihrer Meinung nach aus?
Zuerst einmal braucht man dazu Standorte, die überhaupt eine spannende Perspektive bieten können. Standorte wie Cyber Valley haben da eine Schlüsselrolle, weil hier die entsprechenden Fachkräfte ausgebildet werden. Denn es ist ja nicht so, dass ein KI-Experte an einem beliebigen Ort sein Zelt aufschlägt und loslegen kann: Man braucht eine Infrastruktur, die richtige Umgebung, in der sich Ideen entwickeln können. Deshalb sollte es bei der Verwendung der zusätzlichen finanziellen Mittel darauf ankommen, neben der Infrastruktur vor allem auf Nachwuchsforscher zu setzen: Man muss jungen Menschen die Möglichkeit geben, sich einen Raum zu schaffen für neue Ideen. Auch eine ausreichend lange Förderung ist wichtig, damit sie ihre Ideen zu Ende bringen können, sie umsetzen und auch so einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Impact haben können.
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Philipp Hennig hat eine Cyber-Valley-Professur inne. 2018 wurde er auf die Professur für “Methoden des Maschinellen Lernens” im Fachbereich Informatik berufen. Das Cyber Valley ist das größte Forschungskonsortium im Bereich der künstlichen Intelligenz mit Partnern aus Wissenschaft und Industrie in Europa.
© Quelle: Max Planck Institute for Intelligent System
Ist das im Moment ein Problem in Deutschland und Europa: Es gibt zwar viele exzellente Grundlagenforscher, aber nur wenige konkrete KI-Umsetzungen?
An Ideen fehlt es nicht. Aber die Infrastruktur, um Gründungen auch erfolgreich zu machen, die fehlt oft. Das ist nicht nur in der KI-Forschung so. Die Cyber-Valley-Initiative in Tübingen und Stuttgart, eine Kooperation mit Partnern aus Forschung und Industrie, hat daher auch das Ziel, unter anderem die Gründung von Start-ups zu fördern.
Ist der Abstand zu den großen KI-Nationen wie China oder den USA nicht inzwischen schon viel zu groß geworden?
Nein, der ist mit Sicherheit noch einzuholen. Aber in Europa gibt es eben eine besondere Herausforderung: Die exzellenten KI-Forscher sind in der Breite verteilt. Ein einzelner Lehrstuhl, auch wenn er sehr gut ist, hat es allerdings schwer, Sichtbarkeit zu erzeugen und genügend Studierende anzuziehen. Deswegen ist es so wichtig, dass wir, wie es jetzt ja auch geplant ist, ein europäisches Netzwerk aufbauen – und kein Zentrum. Wir brauchen eine europäische Plattform für Forscherinnen und Forscher. Natürlich ist es schwieriger in Europa, mit seinen verschiedenen Sprachen, Ländern und Verwaltungsstrukturen, eine lebendige Gemeinschaft zu schaffen, wie sie vielleicht natürlicherweise in den USA entsteht. Aber es ist möglich. Europas Stärke besteht auch in genau dieser Diversität.
Wie unterscheiden sich denn die Ansätze der KI-Entwicklung in Europa von denen in den USA oder China?
Der Unterschied zu China ist so deutlich, dass man schon fast gar nicht weiß, wie man ihn in Worte fassen soll: Es ist ganz klar, dass die Technologie, wie wir sie in Europa verwenden wollen, sich von dem unterscheidet, wie sie in China eingesetzt wird. Konzepte wie “Social Scoring” oder die Anwendung von KI, um Ethnien zu erkennen, wären in Europa überhaupt nicht denkbar.
Der Vergleich zu den USA ist etwas komplizierter. Es ist klar, dass sich gewisse politische Ansichten in den USA und in Europa unterscheiden. Trotzdem sollte man nicht in ein Amerika-Bashing verfallen. Die USA sind, wenn es um die Diskussion und Verwendung von Daten geht, schon sehr viel konkreter als wir – beispielsweise beim Thema Fairness von KI-Systemen. Nichtsdestotrotz gibt es auch zwischen den USA und Europa unterschiedliche Wertevorstellungen, insbesondere in Bezug auf Privatsphäre.
Wie äußert sich das konkret?
Nehmen Sie zum Beispiel die Corona-Warn-App des RKI. Das ist zwar nicht unbedingt ein KI-System, aber trotzdem ein gutes Beispiel, wie unterschiedlich Gesellschaften über so ein Thema diskutieren. In Südkorea wird eine vergleichbare App ganz anders verwendet, da hat man zwischen den beiden Aspekten “Recht auf Gesundheit” und “Recht auf Privatsphäre” eine andere Balance gewählt. In Deutschland, aber auch in Europa, wird der Privatsphäre mehr Gewicht verliehen. In der Konsequenz geht man beim Recht auf Gesundheit dann ein höheres Risiko ein, weil man mit den Daten nicht so viel machen kann. Die deutsche App ist aber ein Erfolgsbeispiel dafür, dass das Design einer Technologie unter großer Beteiligung der Gesellschaft zu einem Ergebnis führt.
Das heißt, ein Fokus auf Privatsphäre ist – auch im KI-Bereich – nicht unbedingt ein Nachteil?
Nein, natürlich nicht. Vor allem dann nicht, wenn man als Region die Entwicklung der Technologie mitgestaltet. Das ist natürlich schwieriger, wenn die Regeln einer Technologie woanders gesetzt werden. Dann kann man seine Ansprüche immer erst im Nachhinein anmelden. Wenn man von Anfang an Teil des Gesprächs ist, kann man selbst Lösungen finden, bevor andere es tun.