Therapieplatz gesucht

Per App gegen die Depression? Welche Onlineangebote es für psychische Hilfen gibt

Foto: Das schleswig-holsteinische Gesundheitsministerium genehmigt medizinische Beratung per Telefon und Internet.

Auch online gibt es Hilfe gegen Depression.

München. Julia von dem Knesebeck weiß, wie es um die Psyche der arbeitenden Bevölkerung bestellt ist. „Burn-out beginnt nicht an einem Tag und auch nicht mit der ersten Krankschreibung“, sagt die Deutschland-Chefin von Auntie. Mal bringe man psychische Probleme von zu Hause mit, mal entstünden sie am Arbeitsplatz oder beides gleichzeitig.

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Auntie ist ein Anbieter für psychische Hilfen per Internet, wie sie derzeit im Kommen sind. Die eigenen Dienste offeriert das 2015 gegründete Start-up nicht dem Einzelnen direkt, sondern Unternehmen, die Onlinepsychokurse ihrem Personal zur Verfügung stellen. „Jeder beziehungsweise jede Fünfte in einer Belegschaft hat Bedarf“, nennt Knesebeck einen Erfahrungswert. Harte Zahlen hat die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Baua).

Gut 17 Tage sind deutsche Arbeitnehmer 2020 im Schnitt demnach krankheitsbedingt ausgefallen. In knapp 17 Prozent aller Fälle waren dafür Krankheitsbilder verantwortlich, die mit psychischen und Verhaltensstörungen beschrieben werden. Sie stehen damit nach Krankheiten des Muskel- und Skelettsystems sowie Bindegewebes an zweiter Stelle der Ursachen für Arbeitsunfähigkeit. Psychische Erkrankungen summieren sich damit auf gut 24 Milliarden Euro Wertschöpfungsverlust, hat Baua errechnet.

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Mindestens 1600 Kassensitze fehlen bundesweit

Corona hat das befeuert. „Die Nachfrage nach Psychotherapie ist während der Pandemie noch einmal deutlich angestiegen“, betont Dietrich Munz als Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer. Bei Erwachsenen habe sie 2021 um 40 Prozent und bei Jugendlichen sogar um 60 Prozent zugenommen. Da täte schnelle Hilfe oft not, aber die gibt es oft nicht. „Vier von zehn Behandlungsbedürftigen warten mindestens drei bis neun Monate auf den Beginn einer Behandlung“, räumt Munz ein.

Auch andere Experten sprechen von rund einem halben Jahr Wartezeit. Nur eine kurze Erstberatung sei noch relativ rasch verfügbar, bedauert Munz. Darüber hinaus mangle es in Deutschland an Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die mit Krankenkassen abrechnen dürfen. Mindestens 1600 solcher Kassensitze würden bundesweit fehlen.

Starker Anstieg bei psychischen Krankheiten durch Corona-Pandemie

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Kein Ersatz – aber eine Übergangslösung

Da kommen Apps und Onlineangebote für die Psyche ins Spiel. „Eine Psychotherapie mit Dutzenden Sitzungen können und wollen wir nicht ersetzen“, stellt Knesebeck klar. Aber man könne die Lücke überbrücken, die sich für Hilfsbedürftige auftut, bis ein Therapieplatz frei wird und bevor die Batterie völlig leer ist. Auch psychologische Vor- und Nachsorge ist online möglich.

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Der nach eigenen Angaben in Deutschland führende Anbieter für Onlineunterstützung bei psychischen Belastungen ist mit aktuell rund 35.000 Nutzerinnen und Nutzern das Berliner Startup Selfapy, das es seit 2016 gibt. Im Bereich Depression war der Selfapy-Onlinekurs der erste seiner Art, der als digitale Gesundheitsanwendung (Diga) von Krankenkassen anerkannt wurde. Mittlerweile sind zwei weitere für Panik- und Angststörungen dazugekommen. Von Kassen anerkannte Gesundheits-Apps wie die von Selfapy können sich psychisch Angeschlagene auf Rezept verordnen lassen, was sie dann nichts kostet.

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Die falsche App kann kontraproduktiv sein

Aber Munz warnt davor, blind auf schnelle Hilfe aus dem Internet zu vertrauen. „Patientinnen und Patienten dürfen nicht einfach mit Gesundheits-Apps allein gelassen werden“, betont der Experte. Am Anfang müsse immer eine Arztdiagnose stehen und dann eine passende App verordnet werden. Wirkt sie nicht, bestehe die Gefahr, dass das bei Depressiven den Eindruck verstärkt, nicht gegen die Krankheit anzukommen, was kontraproduktiv wäre. Wichtig sei, dass die Wirksamkeit eines Onlineangebots nachgewiesen ist.

Das trifft bei Weitem nicht immer zu. Im Fall von Selfapy hat eine Studie der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité den Beweis erbracht. Dabei wurde im Schnitt eine 39-prozentige Reduzierung von Depressionssymptomatik belegt und eine von 45 Prozent bei Angstsymptomatik. Im Fall von Auntie gibt es keine solche Studie, nur Erhebungen des Anbieters selbst auf Basis von Selbsteinschätzungen Betroffener, die Wirksamkeit signalisieren.

Onlineangebote, Betroffenheit, Preise

Onlinekurse für die Psyche sind für Betroffene kostenlos, wenn sie auf Rezept von Krankenkassen angeboten und vom Arzt verordnet oder von Firmen für ihr Personal eingekauft werden. Selfapy ist in beiden Bereichen tätig, Auntie nur in Letzterem. Die Techniker-Krankenkasse (TKK) hat den Preis solcher digitaler Gesundheitsangebote (Diga) mit im Schnitt 444 Euro berechnet. In Deutschland leiden rund 20 Millionen Menschen an einer psychischen Erkrankung, etwa ein Drittel davon an Depressionen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte führt ein Verzeichnis über derzeit auf Rezept verfügbare Digas. Dort gibt es auch Informationen darüber, ob für eine App oder einen Onlinekurs die Wirksamkeit bereits nachgewiesen wurde oder ob diese nur vorläufig auf Probe zugelassen sind. Ähnlich sind sich die Angebote darin, dass man wöchentlich einmal für etwa eine Stunde online gehen muss, was sich über mehrere Wochen erstreckt. Teilnehmer sind laut TKK im Schnitt 46 Jahre alt.

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Überwiegend Frauen nehmen Angebote an

Studien dauern – und das Feld der Onlinehilfen für die Psyche ist noch recht jung. Für Belegschaften gebucht wurden Kurse bereits von Firmen wie IBM oder DHL Express, betont Auntie. „Mit Gesprächsangeboten wie unserem senden Unternehmen das Signal aus, bei uns ist es in Ordnung, wenn man über persönliche Probleme redet“, sagt Auntie-Beraterin Mareike Bruns. Menschen fühlten sich dann geschätzt und angenommen. Sie würden oft einen Leidensdruck verspüren, obwohl der noch nicht therapiebedürftig ist.

Im Idealfall könnten Onlinekurse für die Psyche vorsorgend dazu führen, dass es gar nicht dazu kommt, ergänzt Knesebeck. Solche Hilfsangebote werden dann vorwiegend von Frauen angenommen. „Auf einen Mann kommen ungefähr zwei Frauen“, stellt Knesebeck klar. Das deckt sich mit den Statistiken von Krankenkassen. Mit geringerer Bedürftigkeit habe mangelnder Zuspruch von Männern aber nichts zu tun, schätzt Knesebeck. „Bei Männern ist es noch stigmatisierter, ich glaube nicht, dass sie weniger leiden“, sagt die Expertin.

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