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Ergebnisse der Iglu-Studie

Warum immer weniger Kinder richtig lesen lernen

Mit 25,4 Prozent konnte im Erhebungszeitraum der Iglu-Studie rund ein Viertel der deutschen Viertklässlerinnen und Viertklässler nicht ausreichend lesen, um sich damit eigenständig neue Inhalte anzueignen.

Mit 25,4 Prozent konnte im Erhebungszeitraum der Iglu-Studie rund ein Viertel der deutschen Viertklässlerinnen und Viertklässler nicht ausreichend lesen, um sich damit eigenständig neue Inhalte anzueignen.

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„Alle Kinder lernen lesen“ – so zumindest heißt es in einem Lied, das zum Standardrepertoire auf deutschen Einschulungsfeiern gehört. Tatsächlich lernen aber längst nicht alle Kinder richtig lesen; darauf jedenfalls deuten die Ergebnisse der jüngsten Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) hin, die am Dienstag in Berlin vorgestellt wurden. Besonders ein Befund sticht ins Auge: Mit 25,4 Prozent konnte im Erhebungszeitraum rund ein Viertel der deutschen Viertklässlerinnen und Viertklässler nicht ausreichend lesen, um sich damit eigenständig neue Inhalte anzueignen. Bei der letzten Untersuchung im Jahr 2016 waren es noch 18,9 Prozent gewesen.

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Ein Teil dieser Entwicklung dürfte auf die Schulschließungen infolge der Corona-Pandemie zurückzuführen sein. Denn als die Datenerhebung für die neue Iglu-Studie im Sommer 2021 abgeschlossen wurde, waren die Schulen in Deutschland laut einer Untersuchung des Ifo‑Instituts an insgesamt 183 Tagen komplett oder zumindest teilweise geschlossen gewesen. Gerade bei jüngeren Schulkindern habe das zu großen Rückständen geführt, sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger: „Schulschließungen haben Grundschüler stärker getroffen, weil sich diese noch in der Phase der Aneignung von Grundkompetenzen befinden.“ Auch seien Grundschulkinder weniger als Kinder und Jugend­liche in höheren Jahrgangsstufen dazu in der Lage gewesen, sich Unterrichtsinhalte eigenständig zu erarbeiten.

Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lesekompetenz ist in Deutschland besonders stark

Gleichwohl dürfte der Leistungsabfall aber auch noch weitere Gründe haben. „Die Pandemie erklärt sicherlich einen Teil dieser Ergebnisse, kann aber nicht als alleinige Erklärungsursache herangezogen werden“, sagte die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und Berliner Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, Katharina Günther-Wünsch, bei der Vorstellung der Iglu-Studie. Stattdessen rücke vor dem Hintergrund einer gestiegenen Anzahl von Kindern mit Migrationshintergrund auch die Bedeutung der in deren Familien gesprochenen Sprache in den Fokus.

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Denn auch das ist ein zentraler Befund der Iglu-Studie: Kinder, die in ihrem familiären Umfeld Deutsch sprechen, können deutlich besser lesen als Kinder, die sich zu Hause nur selten oder nie auf Deutsch unterhalten. Ein Zusammenhang, der nicht übermäßig überraschen mag, der in Deutschland laut der Untersuchung aber noch stärker ausgeprägt ist als in anderen Ländern. Und noch ein weiterer Zusammenhang scheint in Deutschland besonders wirk­mächtig zu sein: jener zwischen der Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern und deren sozialer Herkunft. Als „alarmierend“ bezeichnete die Staatssekretärin im Bundes­ministerium für Bildung und Forschung, Sabine Döring, diesen Befund am Dienstag.

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„Die soziale Schere geht immer weiter auseinander“

„Skandalös“ nennt Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied im Organisationsbereich Schule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die Ergebnisse der Studie. „Die soziale Schere geht immer weiter auseinander. Damit wird die Chancengleichheit in Deutschland weiter gefährdet. Denn Lesen ist eine der wichtigsten Kompetenzen für den Bildungserfolg“, führt sie aus.

„Problematische Entwicklung“: Deutschlands Viertklässler können immer schlechter lesen
ARCHIV - 10.12.2019, Baden-Württemberg, Stuttgart: Kinder lesen in einer Grundschule. Jeder vierte Viertklässler in Deutschland kann einer Studie zufolge nicht richtig lesen. Das geht aus der am Dienstag in Berlin vorgestellten internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) hervor. (zu dpa: «Jeder vierte Viertklässler kann nicht richtig lesen») Foto: Sebastian Gollnow/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Die Lesekompetenz und das Textverständnis von Schülerinnen und Schülern in Deutschland ist weiter rückläufig.

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Auch die wissenschaftliche Leiterin der Iglu-Studie in Deutschland, Nele McElvany vom Institut für Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Dortmund, legte am Dienstag besonderes Augenmerk auf die soziale Herkunft von Schülerinnen und Schülern als Faktor für deren Lernerfolg beim Lesen. Die Wissenschaftlerin verwies darauf, dass seit der ersten Iglu-Studie im Jahr 2001 keine Fortschritte beim Abbau von Nachteilen zu beobachten seien, die Kinder mit Migrationshintergrund beim Lesenlernen hätten. Dabei zeige der Blick auf andere Länder, dass diese Nachteile „kein unausweichlicher Automatismus“ seien.

Lehrerverbandschef Meidinger fordert verpflichtende Sprachstandtests

Als Fazit haben die Autorinnen und Autoren der deutschen Iglu-Studie mehrere Handlungs­empfehlungen erarbeitet, die dabei helfen sollen, die Lesefähigkeiten von Kindern zu verbessern und sozial bedingte Nachteile auszugleichen. Unter anderem sei es gerade in den ersten Schuljahren wichtig, das Erlernen grundlegender Kompetenzen zu priorisieren. Dazu gehöre auch, mehr Unterrichtszeit auf das Lesenlernen zu verwenden. Im internationalen Vergleich stehe in deutschen Schulen dazu rund eine Stunde pro Woche weniger zur Verfügung als in vielen anderen Ländern. Darüber hinaus fordern die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Lernfortschritte der Kinder besser zu überwachen, um Schülerinnen und Schüler mit Rückständen besser fördern zu können.

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Ähnlich argumentiert der Präsident des Lehrerverbandes. Neben einem stärkeren Fokus auf die Vermittlung von Grundkompetenzen wie dem Lesen brauche es Sprachstandtests schon unter Vorschulkindern und individuelle Förderung für jene, die in der deutschen Sprache Rückstände aufweisen. Als Vorbild verweist Meidinger auf Hamburg: Dort gebe es bereits flächendeckende Sprachstandtests bei Vierjährigen, die im Gegensatz zu anderen Bundes­ländern verpflichtend seien. Bei Feststellung von Sprachdefiziten gebe es anschließend – ebenfalls verpflichtende – Fördermaßnahmen.

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