Täglich grüßt die Atomdebatte: Bundesregierung streitet über die Kernkraft
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Nicht immer einer Meinung: Finanzminister Christian Lindner (FDP, links) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) Anfang Juni auf der Kabinettsbank.
© Quelle: IMAGO/Fotostand
Berlin. Christian Lindner fand am Dienstag deutliche Worte. „Meine Sorge ist, dass wir in einigen Wochen und Monaten eine sehr besorgniserregende Situation haben könnten“, sagte der Bundesfinanzminister von der FDP im ZDF-„heute journal“. Es gehe um drei bis vier, vielleicht fünf Jahre der Knappheit von Energie. Und es bestehe „die Gefahr einer sehr ernst zu nehmenden Wirtschaftskrise aufgrund der stark gestiegenen Energiepreise, aufgrund der Lieferkettenprobleme, aufgrund auch der Inflation“.
Zuvor hatte der FDP-Politiker beim Tag der Industrie eine „offene Debatte“ über längere Laufzeiten der drei noch verbliebenen Atomkraftwerke angemahnt. Noch so viele LNG-Terminals, selbst wenn sie schnell gebaut würden, würden die Energieknappheit nicht beseitigen, warnte er. Damit setzte Lindner den Ton für die Sitzung des Koalitionsausschusses, der am Mittwochabend gegen 20 Uhr beginnen sollte. Zugleich forderte er Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) heraus. Der sagt, ein Weiterbetrieb der Atomkraftwerke Isar II in Bayern, Neckarwestheim II in Baden-Württemberg und Lingen in Niedersachsen, die Ende des Jahres vom Netz gehen sollen, sei längst geprüft worden und stehe nicht zur Debatte.
Weniger Gas, mehr Kohle
In der Sache geht es um den Umstand, dass Russland seine Gaslieferungen zuletzt reduziert hat und damit sowohl die Versorgungssicherheit infrage stellt als auch die Preise weiter in die Höhe treibt. Habeck will das Problem unter anderem dadurch lösen, dass Gas weniger zur Verstromung genutzt wird – und die Lücke durch zusätzliche Kohleverstromung füllen.
Das sei „keine schöne Perspektive, aber notwendig“, sagen Spitzen-Grüne, die nicht auch noch die Atomkröte schlucken wollen. Darüber hinaus mahnen sie wegen steigender Preise weitere Entlastungen einkommensschwacher Bürger an und schließen auch eine Fortsetzung des 9‑Euro-Tickets nicht aus, wenn mehr Menschen in den laufenden drei Monaten Busse und Bahnen nutzen.
Aus der FDP verlautet, für weitere Einmalzahlungen zur Entlastung sei kein Geld da. Darum sei beim Koalitionsausschuss auch nicht mit konkreten Beschlüssen zu rechnen. Auf der Tagesordnung stehe vielmehr ein allgemeiner Austausch über die Energieversorgung einerseits und die Haushaltslage andererseits. Lindner hält bis auf Weiteres an seinem Ziel fest, 2023 erneut die Schuldenbremse des Grundgesetzes einzuhalten; das schlösse neue Schulden weitgehend aus.
Tatsächlich herrscht in der Ampelkoalition die große Sorge, dass sich die Lage für viele Menschen im Herbst verschärft. Bisher, so sagen Regierungsmitglieder, seien die gestiegenen Energiepreise in der Bevölkerung noch gar nicht voll angekommen.
Zur Atomenergie hört man von FDP und Grünen Unterschiedliches. Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke hatten von längeren Laufzeiten der restlichen Atomkraftwerke abgeraten. „Einem kleinen Beitrag zur Energieversorgung stünden große wirtschaftliche, rechtliche und sicherheitstechnische Risiken entgegen“, hieß es in einem Prüfvermerk der beiden Häuser. Die Grünen reagieren hinter den Kulissen zunehmend gereizt. Man verstehe auch nicht, warum die FDP das Thema trotzdem immer wieder auf die Tagesordnung setze, stöhnen führende Parteimitglieder.
Die Energieexpertin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung erklärte in der ARD, die verbliebenen Meiler trügen nur noch 6 Prozent zur Stromproduktion bei. Aufwand und Nutzen einer Laufzeitverlängerung, für die man unter anderem neue Brennstäbe bräuchte, stünden in keiner Relation. Überdies sei weniger fehlender Strom das Problem als fehlende Wärme.
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„Jetzt bin ich frei“
Sechs Monate nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft hat Angela Merkel das RedaktionsNetzwerk Deutschland zu dem ersten Interview in ihrem neuen Büro empfangen. In dem sehr persönlichen Gespräch blickt die Bundeskanzlerin a. D. zurück auf ihre Russland-Politik und die Entscheidung für Nord Stream 2. Und erklärt, warum sie nie offen Partei für die Ostdeutschen ergriffen hat.
Nicht Habeck ärgern
Bei der FDP sagen sie hingegen, die Atomdebatte sei kein Schachzug, „um Habeck zu ärgern“. Es gehe auch nicht darum, den Atomausstieg rückabzuwickeln, sondern bloß darum, in einer Krisensituation einen möglichst großen Mix an Energieträgern vorzuhalten.
Lindners Äußerungen sind jedenfalls nur eine Etappe bei der Bewältigung einer Situation, die es so in Deutschland noch nicht gegeben hat. In seinem Umfeld heißt es: „Noch nicht alle haben den Ernst der Lage verstanden.“
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