Alle Bundesländer verfehlen Vorgaben zu unberührtem Wald

Der Naturwald in Klingberg in Schleswig-Holstein: Die meisten Wälder, die unter Naturschutz stehen, werden trotzdem bewirtschaftet.

Der Naturwald in Klingberg in Schleswig-Holstein: Die meisten Wälder, die unter Naturschutz stehen, werden trotzdem bewirtschaftet.

Berlin. „Wir brauchen eine globale Trendwende“, sagt Angela Merkel, „wir müssen Schutzgebiete ausweiten, wir müssen Ökosysteme renaturieren.“ Nur so lasse sich das dramatische Artensterben aufhalten, betont die Bundeskanzlerin – und: „Mit ‚wir‘ meine ich alle Staaten.“

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Die mahnenden Worte aus ihrer Grußbotschaft an den Biodiversitätsgipfel in New York im September vorigen Jahres verleihen Deutschland die Aura eines Ökomusterschülers. Dagegen sprechen jedoch die Mahnungen, die die Bundesregierung wegen ihrer Verstöße gegen geltendes Naturschutzrecht seit Jahren aus Brüssel kassiert.

Verstöße gegen Naturschutz: EU verklagt Deutschland

Da nicht mal ein Vertragsverletzungsverfahren wirkte, erhebt die EU-Kommission nun Klage vor dem Europäischen Gerichtshof: Deutschland habe eine „bedeutende Anzahl von Gebieten immer noch nicht als besondere Schutzgebiete“, sogenannte Fauna-Flora-Habitat-Gebiete (FFH-Gebiete), ausgewiesen. Auch seien die Erhaltungsziele für die bestehenden FFH-Gebiete nicht ausreichend definiert worden.

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In der Klage geht es also um formale Anforderungen. Dabei steht es um die praktische Umsetzung des Schutzes in bestehenden FFH-Gebieten noch schlechter, kritisieren Naturschützer.

Einer der prominentesten von ihnen ist Peter Wohlleben, Bestsellerautor und Förster. Bei einem Ortstermin in der Feldberger Seenplatte in Mecklenburg-Vorpommern erklärt er das Problem vor Ort: In dem FFH-Gebiet „Wälder bei Feldberg“ sollen alte Laubbäume wichtige Lebensräume für streng geschützte Arten wie Schreiadler und Weißstörche bieten. Doch wie in den meisten Schutzgebieten ist auch „ordnungsgemäße Forstwirtschaft“ erlaubt.

Förster und Bestsellerautor Peter Wohlleben ("Das Leben der Bäume") mit dem Waldexperten Pierre Ibisch (rechts), Biologe und Professor für „Nature Conservation“ an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde.

Förster und Bestsellerautor Peter Wohlleben ("Das Leben der Bäume") mit dem Waldexperten Pierre Ibisch (rechts), Biologe und Professor für „Nature Conservation“ an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde.

Das Ergebnis: An den Wegen stapeln sich Baumstämme, in vielen Bereichen ist kein Kronendach mehr vorhanden. Wohlleben bahnt sich einen Weg durch Fahrspuren und die Stümpfe geschlagener Altbuchen und schüttelt den Kopf: „Hier sieht es aus wie am Amazonas, nur sind wir in Mecklenburg-Vorpommern. Eine Schneise der Verwüstung.“

Claus Tantzen vom Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt von Mecklenburg-Vorpommern widerspricht: Das Waldgebiet befinde sich in einem „günstigen Erhaltungszustand“. Die Schäden könnten auch anders entstanden sein, das löchrige Kronendach etwa durch Stürme.

„Eine Schneise der Verwüstung“

Dass diese hier kaum ausschlaggebend war, zeigt Wohlleben im Totalreservat, welches einige Meter weiter inmitten des FFH-Gebietes liegt: In den „Heiligen Hallen“ dürfen Bäume richtig alt werden, hier schweigen die Sägen seit 150 Jahren. Bis zu 300 Jahre alte Baumriesen sorgen für Artenvielfalt. Das Kronendach ist intakt und fällt mal ein Baum um, bleibt er liegen und bietet als Totholz Lebensraum für viele Rote-Liste-Arten – und als Wasserspeicher.

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„Alte Naturwälder sind im Klimawandel existenziell“, sagt Wohlleben, „denn sie schaffen sich ihr eigenes Mikroklima und kühlen die Landschaft.“

Der schlechte Zustand des FFH-Gebiets bedrohe auch die „Heiligen Hallen“, denn während der immer heißeren Sommer leide deren Lokalklima: „Kühle Luft fließt ab in die umliegenden, fast kahl geschlagenen Wirtschaftswälder.“

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Das Totalreservat sei zu klein: Inmitten des fast 4000 Hektar großen Schutzgebietes macht es nur 66 Hektar aus. Wohlleben fordert „ausreichend große, unzerschnittene Gebiete ohne Nutzung“.

Erst in diesem Januar sprach sich Kanzlerin Merkel dafür aus, 30 Prozent der weltweiten Landfläche unter Naturschutz zu stellen. Dabei scheitert Deutschland selbst schon seit Jahren an dem Ziel, wenigstens 2 Prozent seiner Fläche als „Wildnis“ der Natur zu überlassen. Vorgenommen hatte sich die Bundesregierung diese Quote bereits 2007 in ihrer Nationalen Biodiversitätsstrategie.

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Daten von „Frontal 21“ zeigen das Versagen

Daten aller Bundesländer, die das ZDF-Magazin „Frontal21“ erhoben hat und die dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) vorliegen, zeigen: Bundesweit ist mit 0,6 Prozent nicht mal ein Drittel des Wildnisziels erreicht.

Schlusslicht ist das Flächenland mit der höchsten Bevölkerungsdichte: Nordrhein-Westfalen kommt nur auf 0,19 Prozent Wildnis in der Kernzone des Nationalparks Eifel. Andere Länder mit mehr Natur könnten das ausgleichen, doch die Umfrage beweist, dass kein einziges Flächenland auch nur das Minimalziel von 2 Prozent erreicht.

In Grünen-Ländern noch schlimmere Zahlen

Definiert sind Wildnisgebiete als „ausreichend große, (weitgehend) unzerschnittene, nutzungsfreie Gebiete“ mit einer Mindestgröße von 1000 Hektar, in Ausnahmefällen 500 Hektar. Solche Gebiete finden sich vor allem in den Kernzonen der Nationalparks.

Doch mit Bayerischem Wald und Nationalpark Berchtesgaden kommt selbst Bayern als größtes Flächenland nur auf 0,45 Prozent Wildnis. Da der Freistaat kürzlich den Schutz für einige große Waldgebiete beschlossen hat, schiebt er sich mit 0,63 Prozent ins bundesdeutsche Mittelfeld.

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Allerdings stehen hier bisher vor allem Nadelwälder unter Schutz. Schon lange fordern Naturschützer einen dritten Nationalpark in Franken mit seinen besonders wertvollen Laubwäldern Spessart und Steigerwald. Umfragen zeigen dafür hohe Zustimmungswerte. Kein Wunder also, dass die Grünen mit der Forderung Wahlkampf machen.

Rangfolge der Bundesländer: Schlusslicht NRW

Dabei zeigt die Umfrage, dass es in grün regierten Ländern noch weniger Wildnis gibt: Die waldreichen Länder Rheinland-Pfalz (0,54 Prozent) und Hessen (0,48 Prozent) schneiden schlechter ab als Bayern. Baden-Württemberg, wo die Grünen seit zehn Jahren den Ministerpräsidenten stellen, erreicht mit 0,23 Prozent eine fast so schlechte Quote wie das viel dichter besiedelte NRW.

Sachsen-Anhalt, Thüringen und Niedersachsen liegen knapp unter Bundesdurchschnitt, Sachsen mit 0,6 Prozent im Mittelfeld. Dank verwilderter Truppenübungsplätze und Tagebauflächen schneidet Brandenburg etwas besser ab. Die meiste Wildnis gibt es im Saarland (0,97 Prozent) und in Mecklenburg-Vorpommern mit seinen ausgedehnten Nationalparks (1,58 Prozent).

„Auf einem guten Wege“ sieht sich Schleswig-Holsteins grüner Umweltminister Jan Philipp Albrecht – und verweist auf 1,9 Prozent „bereits ermittelter Wildnisgebiete“. Doch die Zahl ist fragwürdig: Albrecht lässt die Mindestgröße von 1000 Hektar außer Acht und zählt auch Flächen ab 50 Hektar als „Wildnis“.

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Naturschützer finden das absurd, schließlich dient das Wildnisziel zur Einrichtung großer, zusammenhängender Schutzgebiete. Legt man auf Schleswig-Holstein die gleichen Maßstäbe wie bei allen anderen an, kommt es nur auf 0,49 Prozent Wildnis.

„Größe ist wichtig, weil ökologische Systeme Platz brauchen, um sich auszuregulieren“, betont Wohlleben. „2 Prozent ist ein armseliges Ziel, wenn man bedenkt, was wir von anderen Ländern verlangen.“ Allerdings sei Deutschland in Sachen Naturschutz schon lange kein Vorbild mehr, sagt der Naturschützer, „auch wenn wir ständig gute Ratschläge in Richtung Amazonas und Indonesien verteilen“.

<b>Mehr dazu: </b>„Frontal21“, am heutigen Dienstag (23.2.), 21 Uhr im ZDF

Unberührter Wald

Anteil an der Fläche der Bundesländer

Nordrhein-Westfalen

0,19 Prozent

Baden-Württemberg

0,23 Prozent

Sachsen-Anhalt

0,47 Prozent

Thüringen

0,48 Prozent

Hessen

0,48 Prozent

Schleswig-Holstein

0,49 Prozent

Rheinland-Pfalz

0,54 Prozent

Niedersachsen

0,55 Prozent

Sachsen

0,60 Prozent

Bayern

0,63 Prozent

Brandenburg

0,79 Prozent

Saarland

0,97 Prozent

Mecklenburg-Vorpommern

1,58 Prozent

* nach einheitlicher Definition

Nationales Ziel: 2 Prozent

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