Pleitewelle in der Pflegebranche: „Es besteht die große Gefahr eines Flächenbrandes“
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Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes könnte die Zahl Pflegebedürftiger allein durch die zunehmende Alterung von bundesweit nun fünf Millionen bis zum Jahr 2055 auf rund 6,8 Millionen steigen. Gleichzeitig ist der Markt für Pflegekräfte leer gefegt.
© Quelle: Philipp von Ditfurth/dpa
Berlin. Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (BPA) repräsentiert mehr als 13.000 ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen und ist damit die größte Interessenvertretung der privaten Träger. Verbandspräsident Bernd Meurer betreibt drei Pflegeheime in Bayern und Rheinland-Pfalz.
Der Pflegemarkt wird von einer Pleitewelle überrollt. Was ist los in Ihrer Branche?
Die Lage ist beängstigend. Tatsächlich mehren sich die Berichte über Insolvenzen oder Betriebsschließungen. Betroffen sind alle Träger, also nicht nur Familienunternehmen, sondern auch größere Betreiber und Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege. Wir müssen davon ausgehen, dass das keine Einzelfälle mehr sind.
Warum?
Fast 70 Prozent unserer Mitgliedsunternehmen haben in einer aktuellen Befragung angegeben, dass sie Sorgen über ihre wirtschaftliche Existenz in naher Zukunft haben. Andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Es besteht die große Gefahr eines Flächenbrandes. Dann bleiben die Pflegebedürftigen und ihre Familien in großer Zahl auf der Strecke.
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Der Bedarf nach Pflege steigt, aber die Einrichtungen gehen in Konkurs oder geben auf. Wie kann das sein?
Der wesentliche Grund ist der Fachkräftemangel. Wir können unsere Häuser nicht mehr auslasten, weil uns das Pflegepersonal fehlt. Da es für die Personalstärke konkrete gesetzliche Vorgaben gibt, müssen Heimplätze in diesem Fall frei bleiben. Handeln die Betreiber nicht, greift die Heimaufsicht mit einem Belegungsstopp durch. Da gibt es keinen Handlungsspielraum.
Und ein weniger stark ausgelastetes Heim kommt sofort in wirtschaftliche Probleme?
Ja, das ist bei den Verhandlungen mit den Pflegekassen alles sehr knapp kalkuliert. Teilweise sind dabei Belegungsquoten von 97 Prozent unterstellt, was in der Praxis nur zu schaffen ist, wenn das Zimmer eines Verstorbenen noch am selben Tag wieder belegt wird. Das ist ohnehin absurd. Wenn die Quote zum Beispiel auf 80 Prozent abrutscht, ist ein Heim kaum noch wirtschaftlich betreibbar.
Bei geringerer Auslastung sparen sie aber auch Kosten.
Nur sehr begrenzt. Denn Köche oder Hausmeister brauchen sie dennoch. Und vergessen Sie die Investitionskosten nicht. Pachten oder Kreditzinsen müssen weitergezahlt werden, auch wenn es weniger Bewohner in dem Heim gibt.
Die Pflegeeinrichtungen jagen sich nur noch gegenseitig das Personal ab. Wenn ich eine Pflegefachkraft einstelle, weiß ich genau, dass an anderer Stelle ein Loch gerissen wird.
Ist die Personalsituation tatsächlich so schlimm?
Der Markt ist völlig leer gefegt. Die Pflegeeinrichtungen jagen sich nur noch gegenseitig das Personal ab. Wenn ich eine Pflegefachkraft einstelle, weiß ich genau, dass an anderer Stelle ein Loch gerissen wird.
Wären ausländische Pflegekräfte eine Alternative?
Na klar wären sie das. Pflegekräfte aus Serbien oder den Philippinen sind häufig top ausgebildet. Aber die bürokratischen Hürden von der Visaerteilung bis hin zur Anerkennung des Berufsabschlusses sind nach wie vor immens. Je nach Bundesland dauert es weit mehr als ein Jahr, bis eine Fachkraft letztlich anerkannt ist. Und das in einem Mangelberuf!
Die Ampel will aber jetzt die Fachkräfteeinwanderung erleichtern.
Wir kommen viel zu spät. Alten- und Krankenpflegekräfte haben sich doch längst anders orientiert und gehen nach Skandinavien, Großbritannien oder Nordamerika. Für die Betreiber gibt es übrigens ein weiteres Problem: Die Pflegekassen erkennen nach wie vor nicht an, dass die Gewinnung von ausländischen Fachkräften mehr Geld kostet. Vermittlungsagenturen berechnen um die 15.000 Euro je Fall, was angesichts des Aufwandes für die Anwerbung und die Erledigung der Bürokratie durchaus berechtigt ist. Doch die Kassen interessiert das nicht.
Leiharbeit kann in der Wirtschaft ein Weg sein, um Arbeitskräfte zu bekommen. Die Pflegewirtschaft lehnt das aber ab. Warum?
In einem Mangelberuf ist Leiharbeit Teufelszeug. Was passiert? Die Zeitarbeitsfirmen werben bei uns die Fachkräfte mit höheren Löhnen und attraktiven Arbeitszeiten ohne Wochenend- und Nachtdienste ab. Die stehen bei Schichtwechsel direkt vor den Heimen! Die Betreiber müssen dann in ihrer Not die früheren Mitarbeiter für mehr Geld, aber mit eingeschränkter Verfügbarkeit bei den Zeitarbeitsfirmen ausleihen. Damit kann zwar zunächst die Belegung des Heims gesichert werden. Doch die Arbeitsbedingungen für die Stammbelegschaft werden immer schlechter, was den Zeitarbeitsfirmen in die Karten spielt. Ein Teufelskreis.
In der gerade beschlossenen Pflegereform ist eine Regelung enthalten, um die Leiharbeit einzudämmen. Bringt sie etwas?
Im Gegenteil. Sie wird die finanziellen Probleme noch verschärfen. Vorgesehen ist nämlich nur eine gesetzliche Klarstellung, dass die Mehrkosten für die Leiharbeit nicht von den Pflegekassen finanziert werden dürfen. Eine ähnliche Regelung wurde 2020 auch im Krankenhaus eingeführt. Dadurch ist die Leiharbeit dort aber nicht zurückgegangen, im Gegenteil. Ganze OP-Stationen sind mittlerweile mit Leiharbeitern besetzt. Die Kliniken bleiben auf den Mehrkosten sitzen, was die Finanzsituation enorm verschärft hat. Warum diese Entwicklung nun auch in der Altenpflege befördert werden soll, ist mir rätselhaft.
Kann die Leiharbeit nicht einfach verboten werden?
Verfassungsrechtlich ist das schwierig. Aber sinnvoll wäre zum Beispiel, die Zahl der Leiharbeiter über die bestehende Fachkraftquote zu begrenzen. Dort würde dann nur das Personal gezählt, das direkt bei der Pflegeeinrichtung sozialversicherungspflichtig angestellt ist. Das würde etwas helfen. Noch besser wäre eine gesetzliche Regulierung der Zeitarbeitsfirmen, die ihnen Schranken bei der Preisbildung aufweist und die Qualität ihrer Leistungen absichert. Es wird immer wieder die Frage gestellt, ob man mit Pflege Geld verdienen darf. Ich sage Ihnen: Es sind Zeitarbeitsfirmen, die richtig Kohle machen. Da fließen Millionenbeträge ab, die für die Versorgung der Pflegebedürftigen fehlen.