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Wie umgehen mit den Erdogan-Wählern in Deutschland?

Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan stehen im Duisburger Norden mit türkischen Nationalfahnen auf der Straße.

Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan stehen im Duisburger Norden mit türkischen Nationalfahnen auf der Straße.

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Liebe Leserin, lieber Leser,

ich schreibe Ihnen aus Ankara, wo ich für das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) über die Türkei-Wahl berichtet habe. Reisen in die Türkei sind für mich immer besonders. Das liegt zum einen daran, dass ich einen türkischen Vater habe (meine Mutter stammt von einem Bauernhof in Oberbayern). Außerdem habe ich von 2013 bis 2018 als Korrespondent für die Deutsche Presse-Agentur (dpa) aus Istanbul berichtet. Davor hatte ich nie in der Türkei gelebt, ich bin vor gut 51 Jahren in Frankfurt am Main zur Welt gekommen. In diesen fünf Jahren in Istanbul – für mich die schönste Stadt der Welt – habe ich Land und Leute kennen- und lieben gelernt. Und ich habe gemerkt, dass meine Wurzeln doch auch in der Türkei liegen, selbst wenn ich das lange am liebsten verleugnet hätte.

Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der türkenfeindliche Stimmung in Deutschland („Türken raus!“) Alltag war. Als ich als pubertierender Jugendlicher Günter Wallraffs verstörende Sozialreportage „Ganz unten“ über dessen Erfahrungen als angeblicher Gastarbeiter Ali Sinirlioglu las, war ich in meinen Grundfesten erschüttert. Als junger Erwachsener interpretierte ich die rassistischen Angriffe von Rostock, Mölln und Solingen so, dass die Mehrheitsgesellschaft Menschen wie mich nicht in Deutschland haben möchte, meinem Heimatland. Zu dieser Zeit habe ich meine Eltern innerlich für meinen türkischen Namen verflucht. Ich hätte lieber Jan Meyer als Can Merey geheißen.

Polizisten schirmen in der Nacht zum 27. August 1992 in schwerer Ausrüstung und mit Schilden das inzwischen geräumte und teilweise abgebrannte Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen ab.

Polizisten schirmen 1992 in schwerer Ausrüstung das teilweise abgebrannte Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen ab.

Erst bei der Recherche für ein Buch über die Geschichte meines Vaters habe ich erfahren, dass ich bei Behörden jahrelang unwissentlich falsche Angaben zu meiner Person gemacht habe. Ich hatte davor gedacht, ich wäre 1972 als deutscher Staatsbürger geboren worden. Damals galt aber nach dem gültigen Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (das den ersten Teil seines schon damals längst überholten Namens erst im Jahr 2000 verlor): Kinder haben nur Anrecht auf die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn der Vater Deutscher ist. Erst 1974 wurde diese anachronistische Vorgabe geändert. Tatsächlich bin ich also eigentlich gebürtiger Türke, der hier eingebürgert wurde.

Mein Vater ist so überintegriert, dass wir zu Hause leider nie Türkisch gesprochen haben. Ich habe erst in meiner Korrespondentenzeit in Istanbul ernsthaft versucht, die Sprache zu lernen. Für die Bewältigung des Alltags reichen meine Sprachkenntnisse, nicht aber für komplexe Gespräche oder für Interviews, bei denen Zitate sitzen müssen, dafür brauche ich einen Übersetzer. Für Türkinnen und Türken – von denen viele keine Fremdsprache sprechen – ist das oft irritierend, erst recht, weil ich mit meinem Aussehen als Landsmann durchgehe. In Deutschland wurde ich früher dagegen häufig für mein Deutsch gelobt („Für einen Türken sprechen Sie aber sehr gut Deutsch“) – meine Muttersprache, mit der ich als Journalist meinen Lebensunterhalt verdiene.

Mit meinem Namen aus der Türkei zu berichten – ob früher als Korrespondent für die dpa oder jetzt als Reporter für das RND – sorgt für zusätzliche Komplikationen. Türkinnen und Türken haben mir vorgeworfen, zu kritisch über das Land meiner Vorfahren zu berichten, also quasi ein Nestbeschmutzer zu sein. Deutsche haben mich beschuldigt, mir führe doch sowieso Erdogan die Feder. Dass ich kein Freund von Erdogan bin, kann man unschwer früheren Beiträgen in diesem Newsletter oder zahlreichen Artikeln von mir entnehmen.

RND-Reporter Can Merey: „Türken haben mir vorgeworfen, zu kritisch über das Land meiner Vorfahren zu berichten, also quasi ein Nestbeschmutzer zu sein. Deutsche haben mich beschuldigt, mir führe doch sowieso Erdogan die Feder.“

RND-Reporter Can Merey: „Türken haben mir vorgeworfen, zu kritisch über das Land meiner Vorfahren zu berichten, also quasi ein Nestbeschmutzer zu sein. Deutsche haben mich beschuldigt, mir führe doch sowieso Erdogan die Feder.“

Wie man mit den vielen Erdogan-Anhängerinnen und -Anhängern in Deutschland umgehen soll, bereitet auch mir Kopfzerbrechen. Ich glaube, Ausgrenzung – unter der ich in meiner Jugend gelitten habe – ist keine Lösung. Sie befeuert die Unterstützung für den starken Mann in Ankara auch unter eigentlich gut integrierten Deutschtürken noch. Auf einen entsprechenden Kommentar, den ich nach der Wahl für das RND schrieb, reagierte ein Zeitungsleser so: „Man sollte Herrn Merey in einem Türkenviertel aussetzen und ihn dort so lange zwingen, mit seinen Landsleuten Tür an Tür und Wand an Wand zu leben, bis er verstanden hat, was diesen „Integration“ (sic) bedeutet.“

Natürlich gibt es Türkinnen und Türken, die sich nicht integrieren wollen, und natürlich ist das ein Problem. Und wer wirklich glaubt, Erdogans Türkei sei lebenswerter als Deutschland, dem würde ich raten, dorthin umzusiedeln, das steht ja jedem frei. Jede Wette, dass von den mehr als 500.000 Deutschtürken und Deutschtürkinnen, die Erdogan gewählt haben, kaum jemand ernsthaft erwägt, zurück in die Heimat der Vorfahren zu ziehen. Denn eigentlich wissen sie natürlich, welches Land das bessere Modell bietet: Deutschland.

Bis zur nächsten Ausgabe

Ihr Can Merey

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