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Die Trauzeugenaffäre, oder: Wie eine Familie in den Strudel der Politik geriet

Robert Habeck (r, Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, und Patrick Graichen, ehemaliger Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.

Robert Habeck (r, Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, und Patrick Graichen, ehemaliger Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.

Liebe Leserin, lieber Leser,

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menschliche Beziehungen sind brüchige Veranstaltungen. Davon kündet die Scheidungsrate, die in Deutschland zuletzt knapp 40 Prozent betrug. Beziehungen werden zusammengehalten durch ähnliche Herkünfte, gemeinsame Interessen und Überzeugungen sowie charakterliche Ähnlichkeiten. Gleich und gleich gesellt sich gern: Das gilt eigentlich immer und überall. Zugleich gilt auch das Gegenteil immer und überall: dass aus Liebe unter anderen Umständen Enttäuschung, Verachtung, ja Hass werden kann. Und das besonders in der Politik, wobei die gemeinsamen Interessen hier meistens deutlich überwiegen.

Unterdessen sorgen Brüche bei der Regelung staatlicher Geschäfte meistens für großes Aufsehen. Die Trauzeugenaffäre um den bisherigen und von seinem Chef Robert Habeck entlassenen Wirtschaftsstaatssekretär Patrick Graichen ist dafür ein im Wortsinn schlagendes Beispiel – umso mehr, als davon gleich ein ganzer Familien- und Freundeskreis betroffen ist.

Nun muss er doch gehen: Bundeswirtschaftsminister Habeck beendet die Zusammenarbeit mit Staatssekretär Graichen. Damit ist nicht nur eine Beziehung zwischen zwei Politikern kaputt gegangen.

Nun muss er doch gehen: Bundeswirtschaftsminister Habeck beendet die Zusammenarbeit mit Staatssekretär Graichen. Damit ist nicht nur eine Beziehung zwischen zwei Politikern kaputt gegangen.

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Dass das Menschliche durchbricht, geschieht in der Politik häufiger. So schleuderte die damalige Bauministerin Irmgard Schwaetzer (FDP) ihrem Parteifreund Jürgen Möllemann einst ein „Du intrigantes Schwein“ entgegen. Die Liberale ging davon aus, Außenministerin zu werden. Doch dann wurde es Klaus Kinkel. Sie vermutete Möllemann als Drahtzieher im Hintergrund.

Gleich drei Politiker sahen sich im Laufe der Jahre dem Verdacht ausgesetzt, Details über das Liebesleben von Konkurrenten preisgegeben zu haben: in der CSU Edmund Stoiber jene von Theo Waigel sowie Markus Söder jene von Horst Seehofer, und in der Linken Dietmar Bartsch jene von Oskar Lafontaine. Daraus ergaben sich tiefe menschliche und politische Zerwürfnisse.

Der damalige Kanzler Gerhard Schröder drohte dem Vorsitzenden des niedersächsischen SPD-Landesverbandes, Wolfgang Jüttner, weil ein gewisser Olaf Scholz bei der Wahl des SPD-Generalsekretärs nur 52,6 Prozent der Stimmen bekommen hatte. Schröder rief: „Euch mach ich fertig.“ Sein grüner Vizekanzler Joschka Fischer wusste im Zweifel ebenfalls, wie das geht: Gift und Galle spucken. Freilich waren in all diesen Fällen Politiker unter sich.

Markus Söder und Horst Seehofer: Ziemlich beste Feinde.

Markus Söder und Horst Seehofer: Ziemlich beste Feinde.

Bei der Trauzeugenaffäre ist das anders. Hier ist zunächst das Vertrauensverhältnis zwischen Habeck und Graichen kaputtgegangen – und anschließend ein ganzes menschliches Geflecht aus einer Randposition mitten in den Strudel der Staatsgeschäfte geraten.

Ein selbstbewusster Staatssekretär im Zentrum der Affäre

Im Zentrum steht der selbstbewusste Patrick Graichen, der dabei half, seinen Trauzeugen Michael Schäfer zum Chef der Deutschen Energie-Agentur (Dena) zu machen – obwohl der es qua Qualifikation vielleicht sowieso geworden wäre. Als die Sache ruchbar wurde, verlor Schäfer den Posten bekanntlich wieder. Graichen und Schäfer gingen geschädigt aus der gescheiterten Berufung hervor. Die beiden werden nie mehr beieinandersitzen können, ohne dieses Frühjahr 2023 im Hinterkopf zu haben. Ähnliches dürfte für Graichens Ehefrau Ulrike gelten; schließlich ist Schäfer auch ihr Trauzeuge.

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Doch damit nicht genug. Denn letztlich gestürzt ist Patrick Graichen ja über einen von ihm genehmigten Förderbescheid zugunsten des Bundes für Umwelt- und Naturschutz (BUND) in Berlin, an dessen Spitze bis Mai 2022 seine Schwester Verena stand, die wiederum hauptamtlich beim Öko-Institut in Berlin arbeitet, wo auch ihr Bruder Jakob tätig ist. Zwar war die Fördersumme von 600.000 Euro noch nicht geflossen. Und wenn sie geflossen wäre, dann nicht an Verena Graichen persönlich, sondern an die von ihr vertretene Organisation. Aber auch für Patrick Graichen und Verena Graichen sind diese Wochen gewiss lebensprägend.

Michael Kellner, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und damit Vertrauter von Habeck.

Michael Kellner, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und damit Vertrauter von Habeck.

Schließlich ist da noch Michael Kellner, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und damit Vertrauter von Habeck. Kellner hat beruflich keine Aktien an der Affäre. Persönlich hat er sie sehr wohl. Er ist der Ehemann von Verena Graichen und damit der Schwager von Patrick Graichen.

Derweil fragt sich das Publikum vielleicht mehr als sonst bei Polit-Affären: Was davon hätte mir selbst passieren können? Als Schwester, Bruder, Freund?

Wir haben es jedenfalls mit Beziehungen von sechs Leuten zu tun, für die aufgrund eigener Fehler und allgemeiner Umstände nichts mehr ist, wie es bis dahin war. Man mag das politisch sehen, wie man will. Aber menschlich betrachtet ist es schon ein ziemlicher Hammer.

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Bittere Wahrheit

„Gut, Dich zu sehen.“

Olaf Scholz

Bundeskanzler

„Es ist immer eine Freude.“

Wolodymyr Selenskyj

Präsident der Ukraine

Als der russische Angriff auf die Ukraine begann, war die Zurückhaltung des Kanzlers mit Händen zu greifen. Nachdem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 17. März vorigen Jahres zu den Abgeordneten des Bundestages gesprochen hatte, verzichtete Olaf Scholz auf eine Erwiderung. Auch wollte er zunächst keine schweren Waffen in das Land schicken und nicht in die Hauptstadt Kiew reisen, obwohl sich westliche Politiker dort längst die Klinke in die Hand gaben. Der Kanzler begründete dies zwischenzeitlich damit, dass die Ukraine Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ausgeladen habe. Daraufhin nannte der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk den Kanzler in seiner unnachahmlichen Art eine „beleidigte Leberwurst“.

Zwar war Scholz mittlerweile in Kiew und lässt Schützen- sowie Kampfpanzer liefern. Aber dass er und Selenskyj nun beim G7-Gipfel in Hiroshima miteinander sprachen wie alte Freunde: Da ist Vorsicht geboten! Zumindest einer der beiden ist gelernter Schauspieler, Spezialgebiet Komik.

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Trafen in Hiroshima erneut aufeinander: Bundeskanzler Olaf Scholz und Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine.

Trafen in Hiroshima erneut aufeinander: Bundeskanzler Olaf Scholz und Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine.

 

Wie das Ausland auf die Lage schaut

Zu Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) heißt es im Schweizer „Tages-Anzeiger“:

„Habeck hat eine Menge Fehler gemacht, nicht nur im Umgang mit seinem Staatssekretär, sondern auch handwerklicher Art: Manche Gesetze aus seinem Haus waren so kompliziert, dass selbst die Fachleute sie nicht verstanden, und manche waren in der Krise von der Entwicklung überholt, bevor sie in Kraft traten. Im Kern aber wurde ihm zum Verhängnis, dass er von den Klimazielen, denen sich die Regierung verpflichtet hat, nicht nur spricht, sondern sie tatsächlich erreichen will. Der SPD ist dies weniger wichtig, der FDP noch viel weniger. Beim Klimaschutz haben sich die beiden längst gegen die Grünen verbündet.

Über Wirtschaftsminister Robert Habeck schreibt der Schweizer "Tages-Anzeiger": "Manche Gesetze aus seinem Haus waren so kompliziert, dass selbst die Fachleute sie nicht verstanden".

Über Wirtschaftsminister Robert Habeck schreibt der Schweizer "Tages-Anzeiger": "Manche Gesetze aus seinem Haus waren so kompliziert, dass selbst die Fachleute sie nicht verstanden".

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Der Minister weiß, dass die Heizwende vielleicht der schwerste Teil seiner Klimapolitik ist. „Hier verhandeln wir nicht mit fünf Konzernen“, sagte er kürzlich, „sondern mit 84 Millionen Bürgerinnen und Bürgern.“ Doch exakt für diese „unangenehmen Sachen“ sei er Minister geworden. Habeck wird um sein Gesetz kämpfen, so viel steht fest. Er hofft, danach wieder in ruhigere Gewässer zu gelangen, wo sich die Stimmung auch wieder aufhellen kann. Seinen Traum, 2025 Kanzlerkandidat seiner Partei zu werden, hat er noch nicht aufgegeben.“

Die Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ aus Warschau kommentiert den Berlin-Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj:

„(Bei Selenskyjs Besuch) hat Deutschland zugesagt, die angeschlagene Ukraine so lange wie nötig zu unterstützen, und versprochen, ihr auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft zu helfen. Das ist eine große Veränderung, denn noch vor einem Jahr waren die deutsch-ukrainischen Beziehungen schlecht. Der Grund dafür war der deutsche Widerstand gegen die Aufrüstung der Ukraine. Die regierenden Sozialdemokraten wollten nichts davon hören – mit Blick auf den angeborenen deutschen Pazifismus und aus dem naiven Glauben heraus, dass Konflikte diplomatisch und nicht auf dem Schlachtfeld gelöst werden sollten. Als Russland angriff, weigerten sich die Deutschen zunächst, den Ukrainern Waffen zu geben, weil es ein Kardinalprinzip ihrer Außenpolitik war, keine Rüstungsgüter in Konfliktgebiete zu schicken.

Von diesen Irritationen gibt es keine Spur mehr. Denn Deutschland ist schnell zu einem der wichtigsten Geber geworden – sowohl in Bezug auf Geld als auch auf militärische Ausrüstung. Nach seinem Treffen mit Steinmeier brach Selenskyj ein weiteres Tabu für Waffenlieferungen an die Ukraine – er sprach mit Bundeskanzler Scholz über die Lieferung moderner Kampfflugzeuge.“

 

Das ist auch noch lesenswert

Mein Kollege Andreas Niesmann, Leiter der Wirtschaftsredaktion, verbringt wie der Rest unseres Berliner Büros viel Zeit am Schreibtisch. Jetzt aber hat er eine weite Reise unternommen. Niesmann war mit Kanzler Olaf Scholz beim G7-Gipfel in Hiroshima und anschließend an der Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea. Von dort hat er ein lesenswertes Feature mitgebracht mit der hübsch doppeldeutigen Überschrift: Der Grenzgänger. Olaf Schulz besucht Südkorea – und schickt Botschaft nach Pjöngjang

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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), und seine Frau Britta Ernst beim Besuch der entmilitarisierten Zone an der Grenze zu Nordkorea.

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Vorher hat meine Kollegin Kristina Dunz den Kanzler begleitet – und zwar nach Island. Ein dominierendes Thema dabei war wieder einmal Russlands Angriff auf die Ukraine. Frieden mit Russland? Scholz: Kaum vorstellbar – aber er wird kommen

Einen sehr besonderen Text hat Kristina Dunz über den CDU-Politiker Helge Braun geschrieben. Der Arzt war Kanzleramtsminister unter Angela Merkel und ist nun Chef des mächtigen Bundestags-Haushaltsausschusses. Nicht nur weil Braun unterdessen viel Gewicht verloren hat: Es ist die höchst interessante Geschichte einer Verwandlung. Helge Braun: das neue Leben von Merkels Kanzleramtschef (+)

Syrien? Das Land interessiert heute kaum noch jemanden – obwohl der vom russischen Präsidenten an der Macht gehaltene Präsident Baschar al-Assad Hunderttausende auf dem Gewissen hat und nicht zuletzt der Krieg in seinem Land in Deutschland die Flüchtlingskrise auslöste. Meine Kollegin Daniela Vates ist im Gespräch mit der Syrien-Expertin Muriel Asseburg der wichtigen Frage nachgegangen, was es bedeutet, dass al-Assads Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen wurde: Assads Rückkehr in die Arabische Liga: Nahostexpertin spricht vom „Sargnagel“ für den Arabischen Frühling

Das Autorenteam dieses Newsletters meldet sich am Donnerstag wieder. Dann berichtet meine Kollegin Eva Quadbeck. Bis dahin!

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Herzlich

Ihr

Markus Decker

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