80. Jahrestag als Propagandamittel

Für Putin geht die Schlacht um Stalingrad weiter

Eine Statue der "Mutter der Heimat" ist auf der Gedenkstätte auf dem Mamajew-Hügel zu sehen, die anlässlich des 80. Jahrestages des Sieges der Roten Armee in der Schlacht von Stalingrad rot beleuchtet wird. Die Schlacht von Stalingrad hat das Blatt im Zweiten Weltkrieg gewendet und gilt als die blutigste Schlacht der Geschichte, in der schätzungsweise 2 Millionen Soldaten und Zivilisten starben.

Eine Statue der "Mutter der Heimat" ist auf der Gedenkstätte auf dem Mamajew-Hügel zu sehen, die anlässlich des 80. Jahrestages des Sieges der Roten Armee in der Schlacht von Stalingrad rot beleuchtet wird. Die Schlacht von Stalingrad hat das Blatt im Zweiten Weltkrieg gewendet und gilt als die blutigste Schlacht der Geschichte, in der schätzungsweise 2 Millionen Soldaten und Zivilisten starben.

Stalingrad, eine russische Stadt an der Wolga. Einst als Zarizyn gegründet heißt die Millionenstadt seit 61 Jahren Wolgograd. Vor 80 Jahren leitete die Rote Armee hier, wo die 3500 Kilometer lange Wolga in der Topografie des Landes in einem gewaltigen Bogen eine regelrechte Nase bildet, ehe sie in Richtung Kaspisches Meer fließt, die entscheidende Wende im Krieg gegen Nazi-Deutschland ein.

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Schon in der sowjetischen Gesellschaft bildete Stalingrad, auch wenn der Name des Diktators bereits 1961 aus dem Stadtnamen getilgt worden war, einen Mythos, ein Narrativ, der die an Demütigungen reiche russisch-sowjetische Geschichte überstrahlte.

Russlands Präsident Wladimir Putin, der auf das sowjetische Geschichtsbild aufbaut und seine expansive Politik vor allem mit nationalistischen Mythen legitimiert, nutzt den heutigen Stalingrad-Jahrestag für seine Propaganda.

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Wladimir Putin, Präsident von Russland, kommt am 75. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad 2018 zu einer Kranzniederlegung an der Mutter-Heimat-Statue.

Wladimir Putin, Präsident von Russland, kommt am 75. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad 2018 zu einer Kranzniederlegung an der Mutter-Heimat-Statue.

Nicht nur Putin wird am Jahrestag, dem 2. Februar, Wolgograd besuchen, wie Kremlsprecher Dmitri Peskow bestätigte, sondern auch der Gründer und Chef der Wagner-Gruppe Jewgeni Prigoschin sowie Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow – und damit die derzeit wohl wichtigsten Figuren des Kreml. Prigoschin hatte jüngst an Stalingrad erinnert, als er den Sieg „seiner“ Wagner-Söldner in der ostukrainischen Stadt Soledar hervorheben wollte. „Wir haben jetzt ein halbes Jahr Krieg hinter uns, wie ihn weder eure Großväter oder Urgroßväter erlebt haben“, sagte Prigoschin. Im Vergleich zu den Kämpfen um Soledar sei die Schlacht der Roten Armee um Stalingrad im Jahr 1942 gegen die deutsche Wehrmacht „eher ein Urlaub“ gewesen.

Doch das ging dem Kreml dann doch zu weit. Nach Beschwerden erklärte Prigoschin später, dessen Macht ansonsten keine Grenzen kennt, er respektiere natürlich die Geschichte der Vorfahren. Stalingrad zu relativieren gilt als Sakrileg, als Ketzerei. Daran hat sich auch jemand wie Prigoschin zu halten.

Es ist deutlich zu erkennen, wie der Kreml auch über die Glorifizierung des Stalingrad-Sieges mit einem verstärkt antideutschen Akzent die Öffentlichkeit bedient.

Wolfgang Eichwede,

Historiker und Osteuropaexperte

Dass der Kreml den Mythos Stalingrad vor dem Hintergrund des Angriffskrieges gegen die Ukraine jetzt besonders intensiv bemüht, verwundert den Historiker und Russland-Kenner Wolfgang Eichwede nicht. „Es ist deutlich zu erkennen, wie der Kreml auch über die Glorifizierung des Stalingrad-Sieges mit einem verstärkt antideutschen Akzent die Öffentlichkeit bedient“, stellt Eichwede fest.

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„Vor dem Hintergrund einer offensichtlich geplanten großen militärischen Offensive im gegenwärtigen Krieg verspricht man sich hiervon einen gewissen Mobilisierungseffekt und rückt gleichzeitig die Ukraine und mit ihr den gesamten Westen in die Nähe der faschistischen Okkupanten“, so Eichwede zum RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Natürlich sei das historisch absurd, so der Gründungsdirektor der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, schließlich erkämpften 1943 auch Ukrainer, Belarussen, Balten, Kasachen diesen Sieg. „Zudem weiß doch auch in Russland jedermann, dass die enormen sowjetischen Anstrengungen, die vor 80 Jahren zum Sieg führten, in keinem Verhältnis zu dem stehen, was militärisch in der Ostukraine heute passiert.“

Nicht weniger falsch und durchschaubar sei es, „das politische System der Ukraine, das ganz sicher Defizite und Schwächen hat, mit dem des faschistischen Deutschlands gleichzusetzen“, so der Historiker. Aber Putin habe sich ja noch nie gescheut, historisch schiefe Bilder zu bemühen.

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Eichwede hat große Zweifel, ob solche absurden Vergleiche in der russischen Gesellschaft tatsächlich verfangen: „Ich war zwei Jahre nicht in Russland. Aber nach allem, was ich nach zahllosen Reisen und langen Aufenthalten dort gelernt habe, fällt es mir schwer, zu glauben, dass sich selbst eine propagandistisch verführte Gesellschaft darauf einlässt. Wie für die jüngere deutsche Bevölkerung spielen auch für heutige Russen die Mythen aus dem sogenannten ‚Großen vaterländischen Krieg‘, wie es in Russland heißt, keine so große Rolle mehr wir früher.“

Zudem wirke Putins Geschichtsbild allzu konstruiert: „Die westliche Gesellschaft einerseits als moralisch verkommen und von Verfall bedroht zu diffamieren, andererseits ihr eine Nähe zum Faschismus anzudichten, das passt nicht zusammen. Zumal man beim Blick in die Historie ja eingestehen muss, dass auch der Westen im Kampf gegen diesen Faschismus eine enorme Last getragen hat“, fasst Eichwede zusammen.

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Stalingrad bedeutet Sieg

Doch vor allem etwas ist mit dem Mythos verbunden, das jenseits aller historischen Absurditäten in Russlands Gesellschaft auf einen fruchtbaren Boden fällt: Stalingrad bedeutet Sieg. Und Russland dürstet nach Siegen, nach Erfolgen, egal wie hoch der Preis dafür ist. Den Sieg über 300.000 deutsche und verbündete Soldaten hatte sich die Sowjetunion 1943 mit enormen eigenen Verlusten erkauft: Über 1,1 Millionen eigene Kämpfer verlor man, dazu kamen über 100.000 getötete Einwohnerinnen und Einwohner Stalingrads.

„Dieses Prinzip lässt sich passgenau auf die heutige Kriegsführung übertragen“, sagt Jörg Baberowski, Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin, dem RND. „Es spielt keine Rolle, ob strategisch klug gehandelt wird, wichtiger ist es, für eine vermeintlich gerechte Sache zu sterben, dem Vaterland ein Opfer zu bringen“, so Baberowski. Unausgesprochen rechtfertigt der Kreml damit auch heutige „Siege“ wie jenen in Soledar, der nur möglich wurde, weil Unmengen russischer Soldaten ins ungeschützte Feuer geschickt wurden.

Aber Ihr Sohn lebte, verstehen Sie das? Sein Ziel ist erreicht. Das bedeutet, dass er nicht vergebens aus dem Leben geschieden ist.

Wladimir Putin,

Russischer Präsident bei einer Rede vor Soldatenmüttern

In der Tat hielt Putin Ende November 2022 vor Soldatenmüttern, deren Söhne starben, eine bizarre Rede, die Einblick in sein krudes Weltbild gewährt: „Wichtig ist, dass wir alle sterblich sind, alle dem Herrn unterstehen. Und irgendwann werden wir diese Welt verlassen, das ist unvermeidlich. Die Frage ist, wie wir lebten“, so Putin am 25. November 2022. „Bei manchen ist unklar, leben sie oder nicht, und unklar ist auch, wie sie gehen, wegen Wodkas oder irgendetwas anderem, und dann sind sie gegangen (...) Aber Ihr Sohn lebte, verstehen Sie das? Sein Ziel ist erreicht. Das bedeutet, dass er nicht vergebens aus dem Leben geschieden ist. Verstehen Sie?“

Putin hält einen Sieg gegen die Ukraine für „unvermeidlich“
Russia WWII Leningrad Siege Breakthrough Anniversary 8355723 18.01.2023 Russian President Vladimir Putin meets with World War Two veterans, residents of besieged Leningrad and representatives of patriotic civil society associations at the State Memorial Museum of the Defence and Siege of Leningrad in St. Petersburg, Russia. Ilya Pitalev / Sputnik St. Petersburg Russia PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright: xIlyaxPitalevx

Russlands Präsident Wladimir Putin ist nach eigenen Worten fest von einem Sieg in der Ukraine überzeugt.

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Amerika feiert Helden, Russland die Opfer

„Dieses Narrativ vom russischen Menschen, der sich für seine Heimat oder eine größere Sache opfert, ist keine sowjetische Erfindung, sondern reicht tief in die russische Geschichte des 19. Jahrhunderts zurück. Sie ist Bestandteil der patriotischen Erziehung und unterscheidet sich zum Beispiel vom amerikanischen Selbstverständnis, dessen ‚Helden‘ siegen, um zu überleben, anstatt sich zu opfern“, so Baberowski.

Was auch immer die Schlacht von Stalingrad und den Krieg in der Ukraine verbindet – die Rollen von Aggressor und Verteidiger sind vertauscht: 1942/1943 hatte die Rote Armee die „Mutter Heimat“ verteidigt, woran in Wolgograd die gleichnamige über 80 Meter hohe Statue erinnert. Heute sind es die Ukrainer, die sich gegen die russischen Invasoren und Besatzer wehren, die in einem fremden Land foltern, morden, Menschen verschleppen.

Getragen vom Gedanken der Versöhnung

Es gab ein kurzes Zeitfenster, da gab es tatsächlich ein Stalingrad-Gedenken, getragen vom Gedanken der „Versöhnung über den Gräbern“. 1993 war das, als man kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion des 50. Jahrestages der Stalingrad-Schlacht gedachte. Deutsche Historiker wie Jürgen Förster, Gerd Ueberschär und Wolfram Wette legten Sammelbände vor, die erstmals russische Autorinnen und Autoren einbezogen. Zudem wurden Feldpostbriefe populär: Sie dokumentierten das Geschehen nicht wie bisher vom Kartentisch der Generalität aus, sondern gaben Einblick in die Gefühlswelt der einfachen Soldaten.

Das Foto eines vermissten deutschen Soldaten steht auf dem deutschen Soldatenfriedhof Rossoschka bei Wolgograd auf einem Granitwürfel. Auf den insgesamt 107 Granitwürfeln sind mehr als 100.000 Namen von Soldaten eingraviert, die seit den Kämpfen um Stalingrad während des Zweiten Weltkriegs verschollen sind.

Das Foto eines vermissten deutschen Soldaten steht auf dem deutschen Soldatenfriedhof Rossoschka bei Wolgograd auf einem Granitwürfel. Auf den insgesamt 107 Granitwürfeln sind mehr als 100.000 Namen von Soldaten eingraviert, die seit den Kämpfen um Stalingrad während des Zweiten Weltkriegs verschollen sind.

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Damals lebten noch viele ehemalige Soldaten der Wehrmacht und der Roten Armee. Erstmals übernahmen die Veteranen die Deutungshoheit über das Stalingrad-Narrativ, getragen vom Gedanken der Versöhnung tauschten sie ihre Erzählungen aus. Das deutsch-russische Gräberabkommen von 1992 erlaubte dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, auf russischem Boden nach den deutschen Toten des Zweiten Weltkriegs zu suchen und sie würdig zu bestatten. 40 Kilometer vor den Toren Stalingrads entstand der deutsche Soldatenfriedhof Rossoschka, der mit moderner Architektur aufwartete und Platz für 62.000 Gräber bot. Fortan unterschied man im russischen Kriegsgedenken zwischen einer offiziell-staatlichen Erinnerung und einer Art Volkskultur.

Militärparade, Kampfhubschrauber und Düsenjets

Das endete spätestens zum 75. Jahrestag im Februar 2018. Unter Putin war das Stalingrad-Gedenken zum wichtigen Bestandteil seines ideologischen Unterbaus geworden. In Wolgograd wurde eine Militärparade abgehalten, Kampfhubschrauber und Düsenjets donnerten über die Stadt, es war die Demonstration militärischer Stärke eines Landes, das Krieg als legitimes Mittel seiner Außenpolitik betrachtete. Einheitlich gekleidete junge Menschen, Angehörige der Junarmija, Putins Jugendarmee, sorgte für Ordnung. Ein einsamer Putin legte am Fuße der Mutter-Heimat-Statue auf dem in der Schlacht heftig umkämpften Mamajew-Hügel eine Blume auf einem Grab nieder – verkitschtes Pathos nach Regieanweisung.

Und auch für das jetzige Stalingrad-Gedenken gibt es strikte Regieanweisungen, wie die Wirtschaftszeitung „Kommersant“ berichtet. Die Führer der Pro-Kreml-Regierungspartei Russlands haben den Mitgliedern geraten, den Krieg in der Ukraine öffentlich mit der Schlüsselschlacht des Zweiten Weltkriegs zu vergleichen. In Empfehlungen, die laut „New York Times“ jüngst an Mitglieder der Partei Einiges Russland in der Staatsduma gesendet wurden, wird dazu aufgefordert, den Jahrestag von Stalingrad mit Posts in den sozialen Medien zu begehen und mit dem aktuellen Militärfeldzug in der Ukraine gleichzusetzen.

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„Wie die Schlacht von Stalingrad vor 80 Jahren ist [der Krieg in der Ukraine] die Grenze, vor der wir nicht zurückweichen können“, heißt es da. Und: „Stalingrad wurde acht Monate lang verteidigt, der Donbass acht Jahre lang.“

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In Erwartung von Putins Besuch am 2. Februar wurden am Ortseingang sogar Wolgograds Straßenschilder durch Stalingrad-Schilder ersetzt. Vor dem örtlichen Schlachtenpanorama wurden neue Büsten aufgestellt, auch eine von Stalin. Der frühere Ministerpräsident Sergei Stepaschin (70) stieß während einer Podiumsdiskussion eine Debatte an, ob Wolgograd nicht wieder dauerhaft Stalingrad heißen solle, schließlich sei Diktator Josef Stalin eine „vielschichtige Person“ gewesen.

Dazu wurden die Sicherheitsvorkehrungen in der Stadt erhöht: Eine örtliche Verkaufsstelle berichtete, dass übergroße und schwere Fahrzeuge vom 30. Januar bis zum 3. Februar nicht durch die Stadt fahren dürfen, ebenso wie Züge und Fahrzeuge, die „gefährliche Fracht“ wie Industriesprengstoffe transportieren.

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