Die wichtigsten Ereignisse 2022: Wie wir mit der Flut schlechter Nachrichten umgehen können
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So viel ist passiert: 2022 ist nach Meinung vieler ein Jahr der Krisen.
© Quelle: RND-Montage
Hannover. Wissen Sie noch, was Sie am Morgen des 24. Februar 2022 gemacht haben? Was es zum Frühstück gab, und welche Gedanken Ihnen auf dem Weg zur Arbeit durch den Kopf gingen?
Die Erfahrung zeigt: Von Tagen, an denen Historisches geschieht, bleibt immer viel Alltägliches in Erinnerung. Der 11. September 2001 ist solch ein Tag, der sich ins Gedächtnis eingeprägt hat. Aber der 24. Februar 2022?
„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock an diesem Donnerstagmorgen in die Kameras. Und sie wirkte so, als wolle sie den Satz am liebsten gleich wiederholen, um seine Bedeutung selbst so richtig zu verstehen.
Russlands Armee hatte die Ukraine überfallen, die europäische Friedensordnung war innerhalb von wenigen Stunden komplett zusammengebrochen. Aber es wirkte fast so, als brauche die Nachricht Zeit, um sich wirklich zu verbreiten. Um einzusickern in den Alltag der Deutschen, die sich einen Krieg vor der eigenen Haustür einfach nicht vorstellen konnten. Und die bis zuletzt nicht daran geglaubt hatten, dass Russlands Präsident Wladimir Putin tatsächlich zum Äußersten greifen würde.
Die Politikerinnen und Politiker gaben sich alle Mühe, den Menschen die historische Bedeutung dieses Krieges mit aller Kraft vor Augen zu führen. Vier Tage nach dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine, am Sonntag im Bundestag, hielt Bundeskanzler Olaf Scholz seine ganz besondere Rede zur „Zeitenwende“. Er sagte: „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“
Dieser Krieg bringt den Menschen in der Ukraine unendliches Leid. Er fordert Tausende Opfer unter jungen russischen Soldaten, die mit falschen Versprechungen aufs Schlachtfeld geschickt werden.
Wie stark dieser Krieg unsere bekannte Weltordnung aus den Angeln gehoben hat, wird man – wie immer bei historischen Verschiebungen – sicher erst in einigen Jahren richtig beurteilen können. Die Nachrichtenwelt aber ist schon direkt am 24. Februar nicht mehr die alte. An diesem Tag schickte die Nachrichtenagentur dpa 35 Kurzinformationen der Dringlichkeitsstufe zwei – diese Eilmeldungen sind die zweithöchste Währung in der Nachrichtenwelt. Priorität eins ist dem Tod der Queen oder der Wahl eines neuen US-Präsidenten vorbehalten. Aus der jüngeren Vergangenheit ist kein anderes Ereignis mit 35 Eilmeldungen an einem einzigen Tag bekannt.
Bis Ende November sendete die Deutsche Presse-Agentur in ihrem Basisdienst rund 1075 Nachrichten der zweithöchsten Priorität, 375 Eilmeldungen bezogen sich direkt auf das Kriegsgeschehen oder aber seine politischen, gesellschaftlichen und vor allem wirtschaftlichen Folgen.
Der Krieg wirkt sich auf alle in Europa aus
Das Gemeinsame an all den Nachrichten über das Kriegsgeschehen in der Ukraine: Sie haben unmittelbare Auswirkungen auf das Leben überall in Europa.
Unmittelbar nach Kriegsbeginn stiegen die Benzin- und Dieselpreise an den deutschen Zapfsäulen auf zuvor nicht gekannte Höhen. Der Benzinpreis kletterte direkt nach Kriegsbeginn um 7,2 Cent auf 1,742 Euro. Der Dieselpreis legte um 6,6 Cent auf 1,66 Euro zu. Der letzte Tag im Februar 2022 war „der teuerste Tag aller Zeiten“ an den Zapfsäulen, wie es damals hieß. Schon wenige Wochen später war von einem Boykott russischen Öls die Rede – und der Dieselpreis näherte sich der 2,30-Euro-Marke.
Auch die Gaspreise kletterten auf zuvor unvorstellbare Höhen. Auch hier gilt: Jede Bewegung auf dem Gasmarkt wurde unmittelbar durch Nachrichten aus dem Ukraine-Krieg ausgelöst, jede Meldung über den Gasfluss in Nord Stream 1 schlug auf die Gasbörsen durch. Und das auch noch, als durch die Pipeline schon lange kein Methan mehr gepumpt wurde. Als Mitte Oktober die Nachricht über die riesigen Lecks in Nord Stream 1 die Runde machte, gab es nicht nur eine Explosion der Gaspreise, sondern auch ein Beben an der Börse.
Die Meldungen des Jahres 2022 haben Gewicht. Vorbei sind die Zeiten, in denen Nachrichten das Beiwerk in einem entspannten Alltag waren, das Grundrauschen einer Welt, die mit sich im Reinen war.
Neue Wahrnehmung von Nachrichten
Die Aneinanderreihung von Krisen in den vergangenen zehn Jahren hat die Wahrnehmung von Nachrichten grundlegend verändert. Am deutlichsten war dies im ersten Corona-Jahr 2020. Es ist von einem Tag auf den anderen nicht mehr egal gewesen, ob man informiert war oder nicht. Gilt Maskenpflicht, gilt Ausgangssperre, gibt es Impfstoff? Um den Alltag in der Corona-Krise bewältigen zu können, musste man gut informiert sein. Und zwar so aktuell wie möglich.
Im Kern gilt das auch für das Kriegsjahr 2022. Gibt es eine weitere Eskalation in der Ukraine? Rückt der Krieg noch näher an uns heran – und wird die Nato am Ende noch in die Kampfhandlungen verwickelt? Was eher eine diffuse Befürchtung ist und was dagegen ein konkretes Szenario, das lässt sich ohne intensive Bewertung der Nachrichten nicht entscheiden.
Kann ich die Nebenkostenabrechnung noch bezahlen? Kann ich mir das Volltanken noch leisten? Entscheidungen der Politik in dieser Krise – egal, ob Spritpreiszuschuss oder Gaspreisbremse – haben direkte Auswirkungen auf den Alltag und entscheiden darüber, ob wir die Explosion bei den Energiepreisen und die Inflation im Supermarkt bewältigen oder nicht. Auch Nachrichten aus der Berliner Politik sind jetzt „news you can use“, wie es im Angelsächsischen heißt. Also Nachrichten mit einem unmittelbaren Gebrauchswert.
Schon lange nicht mehr waren Nachrichten so wertvoll wie heute. Noch nie aber war die Nachrichtenmüdigkeit auch so groß wie heute.
Medienwissenschaftler haben unterschiedliche Begriffe für dieses Phänomen gefunden. Viele nennen es „new fatigue“, also Nachrichtenerschöpfung. Leif Kramp, Medienwissenschaftler an der Universität Bremen, spricht vom „News-Burn-out“ und gibt dem Ganzen damit schon eine Dimension des psychischen Leidens. Das erscheint übertrieben, doch verschiedene Studien haben inzwischen ergeben, dass sich viele Deutsche in der aktuellen Weltlage sehr unwohl fühlen und sich zudem von der Nachrichtenflut überfordert sehen. Die Folge: Sie wollen immer häufiger keine Nachrichten mehr sehen, hören oder lesen.
Besonders verbreitet ist der „News-Burn-out“ den Studien zufolge bei jungen Leuten, denen man eigentlich eine besondere Kompetenz vor allem im Umgang mit digitalen Medienangeboten und den sogenannten sozialen Medien unterstellt.
Ist das Leben mit dem Dauer-Newsticker auf dem Bildschirm zu anstrengend geworden – oder haben die Nachrichten inzwischen ein solches Gewicht, dass man darunter zu ersticken droht?
Es ist wohl eine Mischung von beidem – und es ist nur menschlich, dass man sich auch Pausen vom Weltgeschehen gönnt. Deutschland ist noch müde von zwei Corona-Jahren, „wundgerieben im Streit um den richtigen Weg“, wie es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier formuliert hat. Der Krieg in der Ukraine folgte unmittelbar auf den Höhepunkt der Corona-Pandemie – und auf die Debatte über den richtigen Umgang mit dem bedrohlichen Virus folgte ohne Pause die Debatte über den Umgang mit der Bedrohung durch den Krieg im Osten.
Eine gewisse Nachrichtenerschöpfung ist also verständlich. Die Geschichte allerdings lehrt: In Krisensituationen hat eine Kopf-in-den-Sand-Haltung noch nie weitergeführt. Resilienz, also die Fähigkeit, mit schwierigen Situationen umzugehen, erwächst nicht aus Desinteresse, sondern aus der Bereitschaft, Zusammenhänge zu verstehen und einzuordnen.
Dafür muss man vielleicht nicht jede Eilmeldung verfolgen. Nachrichten aber sind nun einmal die Grundlage für „sinnstiftende Orientierung“, die der Neurobiologe Gerald Hüther empfiehlt, um mental gesund durch diese schwierige Zeit zu kommen.