Die umstrittene Dependance: Warum London diese Inseln im Indischen Ozean nicht aufgibt
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Trügerische Idylle: Die vertriebene Bevölkerung des Chagos-Archipels kämpft darum, zurückkehren zu dürfen.
© Quelle: picture alliance / CPA Media Co. Ltd
Chagos. Liz Truss mag die kurzlebigste Premierministerin in der Geschichte Großbritanniens gewesen sein. Doch für ein afrikanisches Volk könnte ihre Amtszeit von nur sechs Wochen eine Zeitenwende eingeläutet haben. Vor Kurzem wurde bekannt, dass Truss Gespräche mit ihrem Amtskollegen von Mauritius führte: Thema war das Schicksal von Chagos – jener Inselgruppe im Indischen Ozean, die Großbritannien seit Jahrzehnten als De-facto-Kolonie besetzt hält.
Falls Freiheit einen Duft hat, ist es für Olivier Bancoult wohl der Geruch von Salz in der Luft oder heißem Sand. So roch seine Kindheit. „Ich war vier Jahre alt, als ich entwurzelt und mit meiner Familie vertrieben wurde“, erzählt der Endfünfziger. Aufgewachsen ist Bancoult auf Chagos. Gemeinsam mit etwa 1500 weiteren Inselbewohnern wurde er in den Sechziger- und Siebzigerjahren von dem Tropenarchipel vertrieben, um Platz für eine Militärbasis zu machen. „Wir mussten nach Mauritius übersiedeln. Fortan führten wir ein Leben, das mit jenem auf Chagos nicht vergleichbar war“, sagt er.
Bei der Zwangsumsiedlung, die die USA organisierten, sollen damals zur Einschüchterung der Bevölkerung unter anderem Tausende Haustiere der einheimischen Zivilisten vergast worden sein.
Jetzt könnte sich das Blatt für Bancoult und andere wenden. Wie der britische Außenminister James Cleverly kürzlich bekannt gab, hätten Großbritannien und der afrikanische Inselstaat Mauritius „konstruktive Verhandlungen“ begonnen. Eine Einigung über das Schicksal von Chagos wolle man bis Anfang 2023 finden.
1968 erlangte Mauritius die Unabhängigkeit von Großbritannien. Allerdings hatte die Eigenständigkeit einen hohen Preis: Der fortan souveräne Inselstaat musste auf die Chagos-Inseln, etwa 2000 Kilometer nordöstlich gelegen, verzichten. Insgesamt besteht Chagos aus mehr als 60 Inseln. Die größte davon, Diego Garcia, verpachtete Großbritannien an die USA, die bald darauf einen Luftwaffen-Stützpunkt errichteten. Wo einst Chagossianer lebten, starten jetzt Kampfbomber.
Das sorgt für Wut unter den Vertriebenen. Sie leben heute verteilt auf Großbritannien, Mauritius und die Seychellen. Zwar besitzen sie die Staatsbürgerschaft ihrer jeweiligen Aufnahmeländer, jedoch wollen viele Chagossianer zurückkehren an den Ort ihrer Kindheit.
Für Mauritius ist das Besitzverhältnis der Chagos-Inseln geklärt. Und eigentlich auch für den Rest der Welt, ausgenommen Großbritannien und USA. 2019 sprach sich der Internationale Gerichtshof für eine offizielle Rückgabe an Mauritius aus. Die Weise, auf die die Entkolonialisierung stattfand, habe Mauritius’ „Recht auf Selbstbestimmung“ verletzt, so die Richter in Den Haag. Zwei Jahre später wurde ihr Spruch durch den UN‑Seegerichtshof in Hamburg bestätigt.
In London zeigte man sich allerdings unbeeindruckt. „Wir haben keine Zweifel, was unsere Herrschaft über das Britische Territorium im Indischen Ozean angeht“, teilte das Außenministerium noch zu Jahresbeginn mit. Darüber hinaus investiere man 40 Millionen Pfund in Projekte, die die Lebensverhältnisse der Chagossianer in Mauritius, den Seychellen und dem Vereinigten Königreich verbessern sollen.
Human Rights Watch (HRW) bezeichnete die Ankündigung aus London als „bedeutsame Kursänderung“. Die sich abzeichnenden Verhandlungen seien eine „einzigartige Gelegenheit, das Unrecht an der chagossischen Bevölkerung zu korrigieren“, sagte Mausi Segun, Afrika-Direktorin von HRW. Zu einer Wiedergutmachung gehörten Entschädigungszahlungen. Außerdem müsse London dem Wunsch der Chagossianer auf eine „Rückkehr in Würde“ nachkommen und garantieren, dass es in Zukunft nicht noch einmal zu Vertreibungen komme.
Für die Chagossianer und ihre Nachkommen läuten die Verhandlungen eine neue Ära ein. Wie das Leben auf der noch unbewohnten Insel künftig aussehen könnte, ist aber noch unklar. Laut dem britischen Außenminister Cleverly müsse jegliche Einigung den „fortwährenden wirksamen Betrieb“ des Luftwaffenstützpunkts berücksichtigen. Dieser spiele eine „unverzichtbare Rolle“ für die Sicherheit der Welt. Die Aktivistin Segun kritisiert jedoch: Es deute nichts darauf hin, dass die Chagossianer bei den bilateralen Verhandlungen zu Wort kommen werden. Doch ohne Beteiligung der Opfer werde Englands Versprechen einer menschenrechtsbasierten Politik heuchlerisch wirken.