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UN-Generaldebatte und 50 Jahre deutsche Mitgliedschaft

Wer heute bei den Vereinten Nationen wichtig wird – und welche Lektion Deutschland gelernt hat

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), steht beim Empfang zum 50. Jubiläum der Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen auf der Dachterrasse der UN am East River.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), steht beim Empfang zum 50. Jubiläum der Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen auf der Dachterrasse der UN am East River.

Olaf Scholz hat von hier einen fantastischen Blick über den East River zum New Yorker Stadtteil Queens. Pech nur, dass es diesig ist und die Wolkenkratzer in Nebelschwaden gehüllt sind. Der Bundeskanzler hat am Montagabend (Ortszeit) zum Festakt für 50 Jahre Mitgliedschaft Deutschlands in den Vereinten Nationen in die vierte Etage des UN-Hauptquartiers geladen. Hunderte Gäste kommen und schütteln Scholz, der mit seiner Ehefrau Britta Ernst gekommen ist, die Hand.

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Mette Frederiksen, die dänische Ministerpräsidentin, etwa und der serbische Präsident Aleksandar Vučić. Burundis Präsident Évariste Ndayishimiye und der Vorsitzende der Sozialdemokratische Partei Europas, Stefan Löfven. Die Außenminister von Jordanien, Ruanda, Kasachstan und viele mehr.

Die Bundesregierung ist überzeugt, das Interesse sei so groß, weil die deutsch-deutsche Geschichte einmalig ist. Und weil viele Gäste wissen wollten, wie das eigentlich geht, dass ein Land für den Ausbruch eines Weltkriegs verantwortlich ist, selbst zerstört am Boden liegt, später aber in die UN aufgenommen wird und sich im Laufe der Jahrzehnte zum zweitgrößten Geldgeber der Weltorganisation entwickelt.

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Erinnerung an Willy Brandt

Scholz war zwar erst 15 Jahre alt, als die Bundesrepublik und die DDR 1973 zeitgleich in die Vereinten Nationen aufgenommen wurden. Aber er spricht so, als habe er alles hautnah verfolgt damals. Ein „ganz besonderen Moment in der Nachkriegsgeschichte“, schwärmt er. Man hat das Gefühl, als sei es für ihn wie gestern gewesen, was Willy Brandt, der Friedensnobelpreisträger, damals feierlich erklärt hat.

„Ich spreche zu Ihnen als Deutscher und als Europäer. Genauer: Mein Volk lebt in zwei Staaten und hört doch nicht auf, sich als eine Nation zu verstehen“, betonte Brandt vor genau 50 Jahren als erster Bundeskanzler in einer Generaldebatte der Vereinten Nationen.

Die Weltorganisation wurde 1945 als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg gegründet. Die Aufnahme beider deutscher Staaten 28 Jahre später nährte die Hoffnung auf dauerhaften Frieden. Das sei ein „entscheidender Moment“ gewesen, sagt Scholz nun ein halbes Jahrhundert nach der Aufnahme. Am Ende sei in Europa der Rahmen gewachsen, „in dem die Deutsche Einheit auch möglich geworden ist und erkämpft werden konnte von den Bürgerinnen und Bürgern im Osten Deutschlands“.

In Deutschland ist es früh am Dienstagmorgen, als Scholz in seiner Rede in New York an die Berliner erinnert – 400 Meter von seinem heutigen Büro entfernt. „Damals erschien das Ende des Kalten Krieges, ganz zu schweigen von einem wiedervereinten Deutschland, als eine Utopie in weiter Ferne“, sagt er. Nicht einmal die größten Optimisten hätten das erwartet. „Und trotzdem ist es eingetreten.“ Weil mutige Menschen den Eisernen Vorhang niedergerissen hätten. Und: „Weil führende Politiker und Bürger auf der ganzen Welt den Mut hatten, daran zu glauben, dass selbst die tiefsten Gräben überwunden werden können“, betont Scholz. Willy Brandt sei einer derjenigen gewesen, die fest daran geglaubt hätten.

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Scholz: „Der Imperialismus zeigt sein hässliches Gesicht“

Zu dessen Vermächtnis gehöre das Nein zu Gewalt als Mittel der Politik, das Nein zu Revisionismus und ein klares Ja zu Versuchen, Brücken zu bauen. „Dank dieser Ideale leben wir heute in einem geeinten Land.“ Aber in anderen Teilen der Welt sieht es düster aus – ohne Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zu nennen, sagt der Bundeskanzler: „Der Imperialismus zeigt einmal mehr sein hässliches Gesicht.“

Aber er hier und jetzt in dieser festlichen Stimmung will er Zuversicht verbreiten. „Es gibt eine Lektion, die wir in den letzten 50 Jahren unserer Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen gelernt haben“, sagt er. „Auch tiefe Gräben können überwunden werden, wenn wir mit Mut, mit Kreativität und mit einem unerschütterlichen Bekenntnis zu den Prinzipien dieser unserer Vereinten Nationen zusammenarbeiten.“ Die Wolken über Queens haben sich verzogen. Die Silhouette von Queens wird vom Abendlicht angestrahlt.

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nutzt das Jubiläum, um Reformen der Vereinten Nationen zu fordern. „Die Vereinten Nationen spiegeln die Welt des letzten Jahrhunderts und nicht die Welt dieses Jahrhunderts wider“, klagt sie. Gemeint ist vor allem die Zusammensetzung des Weltsicherheitsrats mit den fünf Vetomächten USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien.

Die Bundesregierung wird nicht müde, eine stärkere Berücksichtigung von Asien, Afrika und Lateinamerika zu verlangen – und den Anspruch auf einen eigenen ständigen Sitz zu erheben.

Baerbock ruft in US-Interview zu Kraftanstrengung gegen Russland auf

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock forderte in einem Interview mit dem US-Sender Fox News Zusammenhalt der weltweiten Demokratien gegen Putin.

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Baerbock: „Dieser nicht perfekte Ort wichtiger denn je“

Baerbock sagt mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und mögliche chinesischen Bedrohungen im Pazifik aber auch: „Gerade in diesen Zeiten, wo die Welt auseinanderzufliegen scheint, ist dieser nicht perfekte Ort der internationalen Gemeinschaft wichtiger denn je.“

Brandt versuchte damals die Nationen im Kalten Krieg aufzurütteln: „Lasst uns mutig und miteinander einen neuen Anfang wagen für die großen Ziele: Konflikte ausräumen, Rüstungen unter Kontrolle bringen, den Frieden sicherer machen. Lasst uns mutig und miteinander dafür kämpfen, dass der Gewaltverzicht allgemein anerkannt wird als Grundsatz für die Lösung politischer Fragen.“ Und unvergessen: „Die Fähigkeit des Menschen zur Vernunft hat die Vereinten Nationen möglich gemacht. Der Hang des Menschen zur Unvernunft macht sie notwendig.“ Das war Brandts Überzeugung.

Der Sieg der Vernunft werde es sein, wenn eines Tages alle Staaten und Regionen in einer Weltnachbarschaft nach den Prinzipien der Vereinten Nationen zusammen lebten und arbeiten. „Ich werde das nicht mehr erleben“, sagte Brandt. „Aber ich möchte dazu noch beitragen.“ Olaf Scholz ist überzeugt, der Friedensnobelpreisträger hat das geschafft.

UN-Generalsekretär Guterres lobte Deutschland bereits vor einigen Tagen als „Verfechter der Charta der Vereinten Nationen“ und erklärte: „Wir zählen auf Deutschland als wichtigen Partner bei unseren weltweiten Bemühungen, eine gerechtere und friedlichere Zukunft für die gesamte Menschheit aufzubauen.“

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Wer am Dienstag spricht

Zum Auftakt der Generaldebatte der UN-Vollversammlung wird eine Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj erwartet. Er ist zum ersten Mal seit dem russischen Überfall auf sein Land am 24. Februar 2022 persönlich bei der Veranstaltung in New York. Der russische Angriffskrieg prägt auch dieses Treffen der mehr als 140 Staats- und Regierungschefs.

+++ Alle aktuellen News und Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine lesen Sie in unserem Liveblog. +++

US-Präsident Joe Biden wird sprechen, ebenso der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, Irans Regierungschef Ebrahim Raisi. Bundeskanzler Olaf Scholz ist vermutlich erst in der Nacht zum Mittwoch (MEZ) dran.

Scholz will am Rande der Vollversammlung noch persönlich Lula und den irakischen Ministerpräsidenten Mohammed Shia Sudani treffen. Besondere Bedeutung kommt einem Gespräch mit Israels Premierminister Benjamin Netanjahu zu, nachdem Israel offiziell dagegen protestiert hat, dass Deutschlands Botschafter Steffen Seibert kürzlich als Zuschauer an einer Beratung des Obersten Gerichts zur umstrittenen Justizreform teilgenommen hatte. Israel soll das als Einmischung in interne politische Angelegenheiten gewertet haben.

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Scholz nahm Seibert am Montag in New York in Schutz: „Der deutsche Botschafter ist ein sehr engagierter Mann mit sehr klaren Prinzipien.“ Auch Baerbock verteidigte Seibert: „Es ist das Alltagsgeschäft von Diplomatinnen und Diplomaten, auf dem aktuellen Stand von Entwicklungen in unterschiedlichen Ländern zu sein.“


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