Zurück zur Normalität: Vielleicht haben wir’s vermasselt
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Ein Plakat weist auf die Maskenpflicht hin
© Quelle: Andreas Arnold/dpa
Hannover. Wir leben in einer Zeit, in der Debatten von heute schon drei Tage später nichts mehr wert sind. “Schlecht gealtert” würde man im Internet wohl dazu sagen. Erinnern wir uns also kurz daran, was wir im März, also vor gut zwei Monaten, mal besprochen hatten.
Es ging um Rücksichtnahme, um Zusammenhalt. Manche glaubten, Corona könne dieses Land und seine Menschen solidarischer machen. Andere fantasierten von nie dagewesenen Chancen, die Corona mit sich bringe, so schlimm die Krise letztendlich auch sei.
Heute müssen wir uns mit der bitteren Realität vertraut machen. Es scheint, als würde nichts davon bleiben.
Alles wie früher
Wer heute durch die Straßen einer mittelgroßen deutschen Stadt läuft, wird gar nicht mehr viel davon mitbekommen, dass hier so etwas wie eine Pandemie in der Luft liegt. Vorbei sind die Zeiten von leeren Straßen, von kritischen Blicken vom Balkon, wenn doch mal eine Gruppe aus drei Leuten, die so gar nicht nach Kernfamilie aussieht, durch die Straßen schlendert.
Heute fahren wieder Autos, shoppen wieder Menschen, machen gar die Fitnessstudios wieder auf. Einzig die Abstandsmakierungen auf den Böden der Geschäfte erinnern noch an die scheinbar längst vergangene Corona-Zeit. Und die Masken in den Gesichtern der Menschen.
Diese allerdings sind schon lange kein Zeichen verständnisvoller Solidarität mehr, sondern ein Schutzschild für sich selbst, mit Blumenmuster. Vom Abstand halten ist in Supermärkten kaum noch etwas zu spüren, wer Maske trägt, fährt Panzer, drängelt sich wie eh und je zwischen zwei Senioren am Einkaufswagenhäuschen. Scheiß auf Risikogruppe.
“Helden der Krise” sind längst vergessen
Wer durch die Parks der Städte spaziert, sieht die Picknicker. Sie sitzen in großen Gruppen unter den Bäumen und an den Gewässern des Landes, als wäre Epidemie ein neuer veganer Kult-Snack aus dem Bioladen.
Und die Menschen beginnen, wieder ins Büro zu gehen. An sich ein gutes Zeichen, traf der Lockdown viele Branchen wie eine Abrissbirne in der Nacht. Aber hatten wir nicht mal über “neue Chancen für eine digitalisierte Arbeitswelt gesprochen?” Was wird davon bleiben, wenn der Kompakt-SUV wieder jeden Tag in Richtung Büro stickoxidiert, obwohl das vereinbarte Meeting auch hätte über Zoom stattfinden können?
Und die Pflegekräfte. Klatschend standen wir auf den Balkonen der Republik, forderten mehr Lohn für systemrelevante Berufe. Die Krankenschwester, die Altenpflegerin, der Rettungssanitäter wurden zu Helden der Krise, nur um ihnen zwei Monate später noch mehr Arbeit aufzubrummen, weil man sich ja unbedingt mit Tausenden “Wir sind das Volk” Rufenden gegenseitig auf dem Cannstatter Wasen anstecken musste.
Das Land hat mit Corona abgeschlossen
Bezeichnet werden diese Demonstranten jetzt häufig als “geistig Verwirrte”, als “psychisch Kranke”. Ein Schlag ins Gesicht für all diejenigen, die tatsächlich mit psychischen Problemen kämpfen, und die sich trotz allem zwei Monate lang aus Solidarität mit anderen Menschen in der Wohnung eingeschlossen haben. Wozu dann eigentlich?
All das Gerede von Solidarität und Chancen verblasst in einem Schwall von “Scheiß egal”. Das Land hat mit Corona abgeschlossen, spätestens seit RTL kein #WirbleibenZuhause mehr bei “Let’s Dance” einblendet.
Die Realität sieht natürlich anders aus. Zuletzt stieg die Corona-Reproduktionszahl wieder über den kritischen Wert 1. Ob das ein dauerhafter Effekt ist, muss sich noch zeigen – doch er beunruhigt. Zugleich lesen wir besorgniserregende Infektionszahlen aus Schlachthöfen in ganz Deutschland. Das komplette Team von Dynamo Dresden geht zwei Wochen in Quarantäne – vorbei der Fußball-Traum.
Was, wenn alles nur noch schlimmer kommt?
Es sind nur kleine Anzeichen, die nichts bedeuten müssen. Und doch zeigen sie uns, dass Corona eben noch nicht vorbei ist, und das auch lange nicht sein wird. Sie zeigen, dass ein vollständiges Zurück zur Pre-Pandemie-Ära derzeit kein besonders kluger Schachzug ist.
Möglicherweise sind diese Warnungen auch nur heiße Luft, vielleicht gilt auch dieser Text in ein, zwei Wochen als “schlecht gealtert”. Wer weiß das schon in diesen Zeiten. Doch was, wenn uns Corona jetzt erst so richtig trifft?
Was, wenn all das von vorn beginnt? Was bedeutet es für unsere Gesundheit? Und was bedeutet es für den Frieden in unserem Land, wenn ein zweiter Lockdown droht? Wenn wir im Sommer bei 42 Grad im Wohnzimmer sitzen werden und der Traum vom Ostseeurlaub in letzter Sekunde kippt? Wenn Restaurants wieder schließen müssen und das öffentliche Leben erneut zum Erliegen kommt, weil wir einfach nicht dazugelernt haben?
Dann haben wir tatsächlich eine Krise, deren Ausmaß man sich kaum vorstellen möchte. Und vor allem haben wir dann eins: es gehörig vermasselt.