„Der Greif“ will an die Macht – Horror, Fantasy und Teenager-Traurigkeiten
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Nicht durch und durch grausam: Yezariael (Paul Schröder) ist zwar ein Diener des Bösen, hat aber auch Gefühle. Szene aus der neuen Prime-Video-Serie „Der Greif“.
© Quelle: Gordon A. Timpen
„Was zum Teufel ist das?“, fragt Memo seinen Kumpel Mark, als sein sowieso schon extrem gruseliger Doppelgänger erst unsichtbar wird und sich dann als augenloses, kalkweißes Monstrum materialisiert. Das Wesen – die Spoiler beginnen diesmal früh –, das sich selbst als Man-Ith bezeichnet, ist ein Wechselbalg, der auf Erden gestaltwandlerisch die Herrschaft des Greifs vorbereiten hilft.
Jenes allwissende, auch als „Großer Adler“ bezeichnete Sagenwesen, das der neuen Serie von Amazon Prime Video den Titel gibt, herrscht über den Schwarzen Turm, eine Parallelwelt mit mehreren „Etagen“ – eine weniger angenehm als die andere. Nein, hat nichts mit Stephen King zu tun – bei dem suchte Junker Roland den „dunklen Turm“.
Der mythische Greif greift auch nach unserer Welt
Die nach lebendem Granit aussehenden gehörnten „Sklavenjäger“ entführen Menschen dorthin und quälen sie bei knochenharter Fron in Basaltminen – warum, wird erst spät offenbart. Der Greif muss in der Menschenwelt den sogenannten Weltenwanderer finden und töten, wodurch er dessen Talent absorbieren würde und in der Folge alle anderen Welten unterjochen könnte. Das alles muss man als Zuschauerin und Zuschauer als gesetzt betrachten. Für Fans von Horror und Fantasy dürfte das kein Problem sein – quasi business as usual.
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Held Mark wird von düsteren Erinnerungen heimgesucht
Im Zentrum der Geschichte steht Mark (Jeremias Meyer, bekannt aus „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“). Mit seinem älteren Bruder Thomas (Theo Trebs) und dem etwas schusseligen Angestellten Memo (Zoran Pingel, „Sloborn“) betreibt der 16-Jährige im kleinstädtischen Krefelden 1994 einen Plattenladen, stellt am liebsten Mixtapes zusammen und wird von düsteren Kindheitserinnerungen an den rätselhaften Feuertod seines Vaters (Golo Euler) zehn Jahre zuvor heimgesucht.
Hals über Kopf waren die Brüder und Vater Karl damals aus der Wohnung geflohen auf der Flucht vor etwas Unheimlichem, das Steinskulpturen zum Leben erwecken konnte. Ein Fluch, der irgendwie mit einem uralten Buch zusammenhängt, lastet auf der Familie Zimmermann.
Zwei Außenseiter reden über Sorgen, Songs und Sehnsüchte
In der Schule gilt Mark als Außenseiter, ein Freak, verloren an die Musik, Prügelknabe für einen sadistischen Lehrer. Das ändert sich, als Becky Peters (Lea Drinda, ebenfalls unter den Protagonisten von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“) die Klasse betritt – die Tochter seines Therapeuten (Thorsten Merten, „Babylon Berlin“), die für eine Weile beim Vater bleiben soll und die Mark anders, komplexer sieht als die anderen.
Bald brutzeln sich die beiden was über einem Tonnenfeuer auf dem Dach des Plattenladens, reden über Songs, Sorgen, Sehnsüchte – über das Leben halt, das sich plötzlich anmutiger und geschmeidiger anfühlt als sonst.
Gerade aber, als die Welt sich für Mark endlich normal zu drehen scheint, kommt Thomas mit der Chronik, die, wie sich herausstellt, ein Familienerbe ist. Und im nächsten Moment schon stellt sich heraus, dass der kleine Bruder der gesuchte Weltenwanderer ist, der in die Turmwelt springen kann. Thomas wird entführt, womit der Greif Mark zu einer Befreiungsaktion zu bewegen sucht. Eine Falle.
Die Serie orientiert sich am Netflix-Hit „Stranger Things“
Die Romanvorlage stammt von dem Phantastika-Gespann Wolfgang Hohlbein und seiner Frau Heike. Was die Stoffentwickler Erol Yesilkaya und Sebastia Marka (er führte bei vier der sechs Folgen auch Regie) daraus machen, orientiert sich unzweifelhaft am Netflix-Hit „Stranger Things“. Es geht auch hier um Teenager, die es schon schwer genug haben, mit Freundschaften und Feindschaften klarzukommen, mit den Erwachsenen und ihrem eigenen Coming of Age.
Selbstfindung steht denn auch im Mittelpunkt, seinen Platz in der kalten Welt zu finden wider alle Fährnisse. Die Liebesgeschichte von Mark und Becky ist süß und trotz aller etwas holprigen Missverständnisse von echten Tränen getränkt. Allerdings sind – anders als in der US-Serie – jenseits der Hauptcharaktere manche der jugendlichen Figuren kaum mehr als Bildfüller.
Deutscher Teenie-Horror ist eher düster-romantisch
Die paranormale Sphäre ist der Prüfstein der Beziehungen, wird von den Beteiligten auch nicht sofort für bare Münze genommen, sondern muss sich ihre Glaubwürdigkeit hart erstreiten. Der Witz, der das dynamische „Stranger Things“ bei all seinen Schwächen zu druckvollem Entertainment machte, ist in „Der Greif“ eher gedämpft. Deutscher Teenie-Horror ist – dem deutschen Wesen angemessen – ernster, düster-romantischer.
Die Story tritt manchmal erzählerisch etwas auf der Stelle, lässt sich aber nicht lumpen, wenn es zu Gewalt und Blutverlust kommt. Die Abteilungen Computertrick und Maske liefern auch Zufriedenstellendes ab. Und die zentralen Songs – Radioheads „Creep“, Pearl Jams „Even Flow“ oder Soundgardens „Black Hole Sun“ – sind der kongeniale Soundtrack zum juvenilen Seelentremor.
Wir sind nicht von ungefähr in Kurt Cobains Todesjahr – der Selbstmord des Nirvana-Sängers, des Königs des Grunge genannten Verzweiflungsrocks, spielt hier am Ende eine wichtigere Rolle als alles fantastische Gewese.
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Lange muss man auf das Erscheinen des Titelmonsters warten
Gespannt ist man auf den Titelschurken. Der von den Granitkerlen „Vater“ genannte Greif ist lange nur ein Schemen, das einen Menschen als Marionette missbraucht, um seinen Willen gegenüber den gehörnten Untertanen kundzutun. Erst zum Schluss, als er das andauernde Versagen seiner Truppe satthat, kraucht er höchstselbst aus dem Versteck, um loszufliegen, seine dunkle Pracht auszustellen und sich Mark zu schnappen.
Na ja, gerade er ist dann leider kaum ehrfurchtgebietender, als es in den Fünfzigerjahren der Vogel Rok aus dem Kultmärchenfilm „Sindbads siebente Reise“ war.
Das Treiben der Quäler: Nur ein stummer Schrei nach Liebe?
Warum hat er’s nicht gleich selbst erledigt, fragt man sich, wenn sein Gefolge aus Stümpern besteht? Aber über derlei logische Brüche hat man sich auch in „Stranger Things“ schnell hinweggesetzt. Freilich: Wenn sich zwei der Menschenquäler allen Ernstes übers Nettsein unterhalten und auch mal ein Tränchen verdrücken, möchte man ihnen glatt bunte Hörnersocken stricken. So ist das blutige Treiben von Monstern am Ende also auch nur ein stummer Schrei nach Liebe. Wer hätt’s gedacht?
Ach ja: Eine Fortsetzung ist, diesen Schluss lassen die letzten Bilder zu, zum Greifen nah.
„Der Greif“, erste Staffel, sechs Episoden, von Sebastian Marka, Erol Yesilkaya, mit Jeremias Meyer, Zoran Pingel, Lea Drinda, Sabine Timoteo, Flora Li Thiemann, Yuri Völsch, Thorsten Merten, Flora Li Thiemann, Armin Rohde (ab 26. Mai bei Amazon Prime Video)
„Der Greif – die Vorboten“, Hörspiel, sechs Episoden, mit Luna Wedler, Lena Urzendowsky, Michelangelo Fortuzzi – Spin-off zur Prime-Video-Serie über das beschauliche Krefelden, das auf mystische Weise mit einer parallelen Welt verbunden ist (ab 26. Mai bei Audible)