Kathedralenschleier: die Verschleierungstaktik der modernen Frau
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Lange Schleier sind in.
© Quelle: Samantha Gades/Unsplash
Die Zahl der Kirchenaustritte bewegt sich auf Rekordniveau. Zehntausende kehrten im vergangenen Jahr katholischer und evangelischer Kirche in Deutschland den Rücken. Auch die Anzahl kirchlicher Trauungen geht seit Jahren zurück. Die Hochzeitsbranche ficht das aber offenbar nicht an. Auf Messen und einschlägigen Internetportalen, in Brautmodegeschäften und bei Onlineanbietern für Hochzeitsoutfits wird immer noch der vor allem für eine kirchliche Heirat charakteristische „Traum in Weiß“ beworben.
Nach dem pandemiebedingten Understatement-Schick sei nun das Prinzessinnenkleid wieder zurück, jubeln Ausstatterinnen und Wedding Planner. Das Sahnebaiser lässt grüßen. Und mit ihm der sogenannte Kathedralenschleier. Klingt dramatisch – ist es auch. Vor allem für das Bild der modernen (Ehe)Frau.
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Ein jahrhundertealtes symbolträchtiges Accessoire
Der Kathedralenschleier steht auf der obersten Stufe der Brautaccessoires. Er ist sozusagen die Krönung eines symbolträchtigen Hochzeitslooks. Der Schleier an sich war Historikerinnen und Historikern zufolge schon in vorchristlicher Zeit im Orient Bestandteil bei Vermählungszeremonien. Er sollte böse Dämonen von der Braut fernhalten. Belege, dass er auch bei Eheschließungen unter Christinnen und Christen Verwendung fand, gehen auf das vierte Jahrhundert zurück.
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Überlang, überaltet und trotzdem in: der Kathedralschleier.
© Quelle: picture alliance / Photoshot
Der Brautschleier stand ursprünglich für die Jungfräulichkeit der Trägerin. Das Lüpfen des Tuchs durch den Bräutigam versinnbildlichte den Wandel vom Mädchen zur Frau, stellte also einen symbolischen Akt der Entjungferung dar.
Heute ist der Schleier vor allem Zierde. Die Braut soll als solche herausstechen, und dafür bedient man sich unter anderem gängiger Erkennungsmerkmale, frei nach dem Motto: Wenn schon heiraten, dann mit allem Drum und Dran.
Kaiserin „Sisi“ als Inbegriff der Märchenbraut
Länge und Umfang des Schleiers richten sich nach der Art des Brautkleides. Je bombastischer es ist, desto länger darf der Schleier sein. Bei kurzer Saumlänge greift man zu einem kurzen Modell, das meist in die Frisur gesteckt wird. Nach dem Ellenbogen- und Fingerspitzenschleier folgt dann die XXL-Version: der Kathedralenschleier, der mit rund zwei Metern oder mehr die Schleppe ersetzt – fast zu schade, um damit lediglich die Stufen des Standesamtes zu fegen, anstatt durch den Längsgang einer Kirche zu schreiten wie einst Kaiserin Elisabeth von Österreich.
Auch wenn aktuelle Bücher und Serien nach jahrzehntelanger Verklärung nun recht deutlich ihre charakterlichen Schwächen und Schattenseiten aufzeigen, bleibt „Sisi“ doch der Inbegriff der Märchenbraut. Das ist im Grunde merkwürdig, weil bei ihrer Trauung mit Kaiser Franz Joseph im April 1854 nur die engsten Verwandten und Mitglieder des Hofstaats zugegen waren. Es gibt nur einen Stich von der Zeremonie, auf dem das Brautkleid kaum zu erkennen ist. Im Übrigen wurde es nach der Trauung der Basilika Maria Taferl gespendet – und zu einem liturgischen Messgewand umgeschneidert.
Was aus dem Brautschleier aus Brüsseler Spitze geworden ist, ist unklar. Er soll jedoch dem Brautschleier an sich bis ins 20. Jahrhundert hinein zu großer Popularität verholfen haben.
Bei aller Tradition und Kleidsamkeit mutet es doch heute nahezu befremdlich an, sich freiwillig in eine solche Tüllgardine zu hüllen. Vor allem, wenn man aktuelle Bilder aus dem Iran vor Augen hat: Frauen, die gegen die dortige Kopftuchpflicht, die viele als Verschleierungsgebot empfinden, protestieren – und damit ihr Leben in dem klerikal-islamischen Staat aufs Spiel setzen.