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Gelassenheit in der Liebe

Im Land der glücklichen Singles: Was wir von Japan lernen können

Allein, aber nicht einsam: Gerade japanische Frauen wissen das Singleleben zu schätzen.

Allein, aber nicht einsam: Gerade japanische Frauen wissen das Singleleben zu schätzen.

Tokio. Als Yuka im Café ankommt, überzieht ihr Gesicht ein erschöpftes, zufriedenes Lächeln. „Entschuldigung, ich hatte noch etwas Arbeit zu erledigen“, erklärt sie, obwohl sie pünktlich ist, nur eben nicht als Erste am Treffpunkt gestanden hat. Das Unternehmen, bei dem sie gerade einen neuen Job angefangen hat, gebe ihr gerade eine spitzenmäßige Einarbeitung, schwärmt Yuka. Daher sei sie etwas länger im Büro geblieben. Lässt sich das so einfach mit dem Privatleben vereinbaren?

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Yuka grinst. „Hätte ich einen Freund zu Hause, hätte ich mich wahrscheinlich beeilen müssen, um ihm zu seinem Feierabend etwas zu kochen“, sagt sie. So aber könne sie nach Hause gehen, wann es ihr passt. Am späteren Abend werde sie noch eine Freundin treffen, um ein neues Restaurant auszuprobieren. Hier, in Ebisu, einem schicken Viertel im westlichen Zentrum Tokios, machen seit dem Ende der Corona-Pandemie fast wöchentlich innovative Lokale auf. Und Yuka lässt sich ungern eines entgehen. „Als Single ist das Leben so schön unbeschwert“, sagt die 42-Jährige. „Ich bin zufrieden.“

Käme diese Behauptung von einer Frau oder einem Mann in einem westlichen Land, würde sie wohl auf Misstrauen stoßen. In Deutschland, Frankreich oder den USA gilt Zufriedenheit für einen Single höchstens als Übergangsstadium, kaum als Dauerzustand. Die Japanerin Yuka aber, die wegen ihres Jobs nur ihren Vornamen in der Zeitung lesen möchte, ist seit sechs Jahren alleinstehend und sucht schon lange keinen Partner mehr. Das Singleleben sei voller Freuden und Erfüllung, findet sie.

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Megatrend: Schleichende Abwehr von Liebesbeziehungen

In dem ostasiatischen Land ist die Tokioterin mit dieser Einstellung nicht allein. Sie ist eine von vielen, die immer mehr werden. Seit mittlerweile mehreren Jahren erlebt Japan eine Art sozialen Megatrend: eine schleichende Abwehr von Liebesbeziehungen. Was vor allem von westlichen Medien häufig als Katastrophenszenario interpretiert wird, gilt im Land selbst als neue Normalität. Diverse Umfragen ergeben nicht nur einen steigenden Anteil der Singles an der Gesamtbevölkerung, sondern dokumentieren auch ein hohes Maß an Zufriedenheit unter den Alleinlebenden.

Der Kondomhersteller Sagami kam vor einigen Jahren durch eine Befragung zu dem Ergebnis, dass ein Drittel aller Männer und ein Viertel aller Frauen in ihren Dreißigern Single sind. Von den Unverheirateten sind laut dem Nationalen Institut für Bevölkerungsforschung fast 60 Prozent der 18- bis 34-jährigen Frauen in keiner heterosexuellen Beziehung; homosexuelle Paare fehlen in der Befragung. Bei den Männern sind fast 70 Prozent Single. Mehr als die Hälfte der allein Lebenden ist laut den Erhebungen auch nicht auf der Suche nach einem Partner oder einer Partnerin.

Laut Vorausberechnungen dürfte im Jahr 2035 die Hälfte aller Menschen in Japan allein leben. Dabei ist Alleinsein vor allem in den Großstädten schon jetzt so üblich, dass es niemandem mehr sonderlich auffällt. Tokio, mit 37 Millionen der größte Ballungsraum der Welt, ist insofern die Welthauptstadt der Singles. Und hier stellt sich längst eine ganze Ökonomie darauf ein. Für Singles, die sich etwas Knistern wünschen, gibt es Lokale, wo Kundinnen und Kunden mit Hosts und Hostessen Flirts und Liebesbeziehungen simulieren können. Jedes normale Restaurant bietet immer auch Einzeltische.

Yuka, eine leger gekleidete Frau mit langen Haaren und dezentem Make-up, genießt die Angebote, die Tokio in jedem Viertel gleich mehrfach zu bieten hat. „Am Wochenende spiele ich Tennis, und unter der Woche mache ich oft Yoga“, erzählt sie und blickt durch das große Caféfenster nach draußen. Tagsüber erfülle sie ihr Job im E-Commerce bei einem amerikanischen Techkonzern, für den Headhunter sie Ende vergangenen Jahres angeworben haben. Menschliche Nähe und Rückhalt erfahre sie von ihren Freundinnen, sagt sie. Aber klafft da nicht trotzdem eine Lücke?

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Auf die Frage reagiert Yuka mit Achselzucken. „Bei Familientreffen fragt meine Oma das auch manchmal. Meine Mutter aber schon nicht mehr!“ Die sei es nämlich gewesen, die Yuka von der Idee, das Ziel im Leben müsse eine Beziehung samt Familiengründung sein, unabsichtlich abgebracht habe. „Wenn meine Mutter wütend wurde, sagte sie mir als Kind: ‚Als Mutter kann man nichts mehr machen im Leben!‘ Für mich klang das erst wie ein Vorwurf.“ Als Heranwachsende interpretierte Yuka das so: Vor allem für Frauen bedeute das Kinderkriegen oft den Abschied von Lebensträumen.

Horst gibt Tipps, die Teilnehmer hören zu und schreiben mit.

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Frauen müssen sich entscheiden: Job oder Familie?

In vielen Industriegesellschaften – der deutschen inklusive – sind die Gründe für niedrige Geburtenraten ähnlich: Hohe Kosten für Kindererziehung, eine zunehmende Bedeutung von Individualismus und die Emanzipation von Frauen, die für finanzielle Stabilität keine Männer mehr brauchen. Auf Japan, wo sich die Geschlechterrollen eher langsam verändern, trifft dies besonders zu. Junge Frauen sehen sich häufig vor eine Entscheidung gestellt: Job oder Familie. Denn wer schwanger wird, erhält vom Arbeitgeber selten die Garantie, nach einer Babypause wieder die vorige Stelle zu erhalten.

Yuka muss lächeln, wenn sie das hört. „Das war bei mir genauso. ‚Elternzeit gibt es hier nicht‘, verkündete mein voriger Arbeitgeber gegenüber allen Frauen im Unternehmen.“ Auch von ihrem damaligen Partner fühlte sich Yuka nicht umfassend unterstützt. „Als mein Ex einmal den Job wechselte, habe ich morgens und abends für ihn gekocht, weil er viel zu tun hatte. Umgekehrt hat er sich für mich nicht annähernd so eingesetzt.“ Aber die damals 37-Jährige – für das Paar war Kinderkriegen auch ein Thema – bedauerte die wenig idealen Umständen nur eine Zeit lang.

Jede Menge Ausgehmöglichkeiten für Singles: In Tokio kann man in unzähligen Bars den Abend verbringen, etwa im „High Five“.

Jede Menge Ausgehmöglichkeiten für Singles: In Tokio kann man in unzähligen Bars den Abend verbringen, etwa im „High Five“.

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Als sie sich von ihrem Ex-Freund schließlich getrennt hatte, war die Trauerphase kurz. „Ich erinnerte mich an die lieblose Beziehung meiner Eltern, die auch den Erfahrungen vieler Freunde von mir entsprach. Dann kaufte ich mir hier in Ebisu eine Wohnung, stürzte mich in Sport und Beruf.“ Seitdem, beteuert Yuka, würde sie ihr Leben für nichts eintauschen wollen. „Ich kann alles tun, was ich will. Niemand erwartet etwas von mir.“

Wer die japanische Gesellschaft kennt, kann dem Gedanken, auch ein Leben ohne Liebesbeziehung könne erfüllend sein, durchaus Glauben schenken. Die Idee der romantischen Liebe kam erst Ende des 19. Jahrhunderts als Kulturimport nach Japan. Seitdem begegnet man schnulzigen Romanzen zwar überall, von Kinofilmen bis zu Werbespots. Aber damit verbundene Vorstellungen wie dauerhaftes Herzrasen oder Seelenverwandtschaft, die durch Schriftsteller wie Shakespeare und Goethe ins westliche Denken schon vor Jahrhunderten Einzug erhalten haben, sind in Japan immer eher Exotik geblieben. Der im ostasiatischen Land bekannte Soziologe Masahiro Yamada beschreibt die romantische Liebe in einem Aufsatz sogar als „moderne westliche Ideologie“.

Pragmatischer Ansatz in Partnerschaftsfragen

Vor der Öffnung Japans gegenüber dem Westen waren Ehe und Partnerschaft eher ökonomisch ausgerichtet. Man gründete eine Haushaltseinheit, die zum Zwecke des Zusammenlebens und der Kindererziehung funktionieren sollte. Für private Bedürfnisse gönnte man sich Freiräume. Dieser pragmatische Ansatz in Partnerschaftsfragen besteht in Japan auch heute noch. Und der Jahr für Jahr wachsenden Zahl an Singles, die sich nicht in die starren Muster von Arbeitsmarkt und Geschlechterrollen zwängen lassen wollen, sind sie durchaus behilflich.

„Wäre ich ein Single in Europa oder den USA“, spekuliert Yuka, als sie draußen auf der Straße zwei westliche Touristen sieht, „würden mich meine Freunde wahrscheinlich bemitleiden, weil mir das passende Puzzlestück fehle, um mein Leben komplett zu machen. Aber in Japan sieht man das nicht so.“ Das höhere Ideal der romantischen Liebe als Lebensziel werde hier kaum ernst genommen.

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Ob westliche Gesellschaften, wo Individualismus ebenfalls zugenommen hat, wo sich Menschen immer stärker auf ihr Einzelglück konzentrieren, von Japan etwas lernen können? Yuka überlegt einen Moment. „Eine amerikanische Arbeitskollegin hat mich das auch schon gefragt.“ Und vielleicht sei das kein großartiger Ratschlag gewesen, sagt die 42-Jährige und muss verlegen lächeln. „Aber wie wäre es, wenn man einfach nichts Unwahrscheinliches erwartet wie eine große, ewige Liebe?“

In Europa oder den USA scheint so ein blanker Realismus den meisten schwerzufallen. Treffen sich in Deutschland alte Bekannte, dreht sich das erste Gespräch schließlich fast immer um den Job und die Liebe – und bleibt dann bei der Liebe. Wer keine hat, wirkt dann oft seltsam, manchmal bemitleidenswert. Aber vielleicht würde auch in Europa, wo das Singlesein de facto längst auch selbstverständlich geworden ist, ein stärker japanischer Ansatz helfen: Erkennen, dass Shake­speare, Goethe und Schiller mit ihren romantischen Vorstellungen der ewigen Liebe keine Sachbuchautoren waren. Das war immer Fiktion.

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