Die Ware Zucker: Macht uns die Nahrungsmittelindustrie süchtig und dick?
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Ernährungsexperte Wilfried Bommert meint, dass die Industrie das Suchtmittel Zucker kommerziell ausnutzt.
© Quelle: Hendrik Schmidt/dpa
In seinem neuen Buch „Stille Killer. Wie Big Food unsere Gesundheit gefährdet“ warnt Wilfried Bommert, Wissenschaftsjournalist und Vorstand des Instituts für Welternährung, vor den „Drogenkartellen des 21. Jahrhunderts“. Ihre Ware: Zucker, versteckt in hoch verarbeiteten Lebensmitteln wie Fertigpizzen, Burger, Schokolade, Würstchen und Weingummi. Eine ihrer wichtigsten Zielgruppen: Kinder.
Im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) warnt Wilfried Bommert vor der nächsten Pandemie, die die Gesundheitssysteme weltweit belasten wird. Diese wird jedoch nicht von einem Virus, sondern von hoch verarbeiteten Lebensmitteln und der Sucht nach Zucker verursacht.
Herr Bommert, in Ihrem Buch warnen Sie vor Übergewicht und Adipositas als nächste Pandemie, die Millionen Menschenleben kosten könnte. Hand aufs Herz: Schlimmer als Corona kann es doch eigentlich nicht mehr werden.
Das lässt sich schlecht miteinander vergleichen. Die langfristigen Folgen der Corona-Pandemie – und damit die Kosten für das Gesundheitssystem – sind noch gar nicht richtig abschätzbar. Wir wissen aber, dass weltweit rund 40 Prozent der Menschen übergewichtig sind – 13 Prozent davon im krankhaften Bereich. Bis 2030 könnte es weltweit 3,3 Milliarden Übergewichtige geben. Übergewicht und Adipositas werden in Zukunft Gesundheitssysteme weltweit immer stärker belasten. Wer heute übergewichtig ist, wird später wahrscheinlich unter Adipositas leiden und damit eine lange Krankheitskarriere vor sich haben.
Die gesundheitlichen Schäden durch Übergewicht betreffen außerdem nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Adipöse Menschen sind in unserer Gesellschaft auf sich allein gestellt. Sie werden aufgrund ihres Aussehens sozial isoliert – und das hat gravierende psychische Auswirkungen. Hinzu kommt ein deutlich erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Probleme, Diabetes Typ II und auch Krebs. Diese Erkrankungen werden unser Gesundheitssystem in Milliardenhöhe und auf Dauer belasten. Wir schaffen heute durch unsere Ernährung eine Gesundheitssituation, die wir in Zukunft nicht mehr eingrenzen können.
Sie schreiben, dass hoch verarbeitete Lebensmittel wie Fertigpizzen, Schokoriegel oder Hamburger Suchtmittel sind, die dringend reguliert werden müssen. Ist denn nicht jeder selbst verantwortlich, was auf seinem Teller landet?
Sofern Menschen Suchtmitteln nicht ausgesetzt sind, schon. Aber sobald Suchtmittel ins Spiel kommen, wird es schwer für den Einzelnen, aus der Sucht herauszukommen. Das gilt für Suchtmittel wie Tabak, Alkohol oder Heroin, aber auch für hoch verarbeitete Lebensmittel. Der in diesen Produkten enthaltene Suchtstoff ist Zucker – insbesondere Fruktose aus Maisstärke. Ursprünglich wurde Mais vor allem als Viehfutter verwendet. Doch dann wurden in den USA die industriellen Vorteile des daraus gewonnenen Zuckers entdeckt. Mittlerweile enthalten Lebensmittel immer mehr „High Fructose Corn Syrup“. Damit enthalten hoch verarbeitete Produkte einen Stoff, der von unseren Körpern nicht mehr als Teil des Sättigungsprozesses erkannt wird. Dieser Zucker wird zu Fett umgebaut, das in der Leber eingelagert wird und zu Gesundheitsproblemen führt. Studien haben gezeigt, dass dafür keine großen Mengen erforderlich sind, sondern schon eine verhältnismäßig kleine Dosis negative gesundheitliche Folgen hat.
Wir schaffen heute durch unsere Ernährung eine Gesundheitssituation, die wir in Zukunft nicht mehr eingrenzen können.
Sie schreiben, dass Kinder besonders durch Übergewicht und Adipositas gefährdet sind. Warum ist das so?
Wie alle Menschen, reagieren auch Kinder auf die „Fressformel“. Das heißt, dass Produkte, die etwa 50 Prozent Kohlenhydrate und 35 Prozent Fett enthalten, besonders gierig verschlungen werden. Die bevorzugten Kohlenhydrate stammen aus Zucker – wir sind darauf genetisch programmiert. Nun ist aber der Zucker nicht mehr derselbe wie vor 30 Jahren. Die Maisfruktose ist in Europa erst im letzten Jahrzehnt angekommen. Heute setzt die Industrie also in unserer Nahrung einen Stoff ein, der als Suchtmittel identifiziert ist. Wenn Kinder dem im jungen Alter ausgesetzt sind, kann das zu einer Suchtkarriere führen. Die Industrie hat Kinder zusätzlich besonders im Fokus, denn sie sind die Kunden von Morgen. Aufgrund fehlender Zeit sind viele Eltern auch bereit, das negative Essverhalten ihrer Kinder zu akzeptieren. Die Lebensumstände der Menschen begünstigen den Griff zu hoch verarbeiteten Lebensmitteln. Das ist nicht nur in Deutschland, sondern auch in Ländern wie etwa Brasilien ein großes Problem.
Wenn Zucker das Problem ist – wäre dann nicht Süßstoff eine Lösung?
Die Wirkung von Süßstoff auf die Gesundheit ist in einer chilenischen Studie gründlich untersucht worden. Dort ging die Regierung gegen die Verfettung der Bevölkerung vor, indem sie die Industrie zwang, auf Lebensmittelpackungen vor einem hohen Verarbeitungsgrad und Zucker zu warnen. Die Industrie reagierte, indem sie den Zucker durch Süßstoff ersetzte. Das führte bei der chilenischen Bevölkerung zu einer inversen Reaktion. In der Studie wurde deutlich, dass der Körper Süßstoff als Stimulator erkennt, Kalorien daraufhin noch besser verwertet und wie beim Genuss von Zucker beginnt, Fettreserven aufzubauen. Auch Spätfolgen konnten in der Untersuchung nicht ausgeschlossen werden. Diese inverse körperliche Situation hat in Chile dazu geführt, dass dort Ärzte davor warnten, Zuckerersatzprodukte zu nutzen.
Wenn man das alles weiß, hat die Wissenschaft denn keinen Einfluss auf die Unternehmen?
Die Wissenschaft hat sich sehr lange nicht mit diesem Gebiet der industriell hoch verarbeiteten Ernährung beschäftigt. Das liegt daran, dass dafür in den Forschungsetats kein Geld vorhanden war. Was keine Förderung bekommt, wird auch nicht erforscht. Gleichzeitig fließt aber viel Geld in desorientierende Forschung. Das heißt, dass Großkonzerne versuchen, Forschungsergebnisse zu produzieren, die ihre Produkte als nicht gesundheitsschädlich darstellen. Vor allem Unternehmen wie Coco-Cola sind auf diese Weise aufgefallen, weil sie Studien finanzierten, die die Industrie entlasten. Das Eis wird für die Konzerne aber definitiv dünner.
Wer versucht, den Menschen auf dem Teller rumzurangieren, muss um seine Wiederwahl fürchten.
Sie schlagen auch den Bogen zum Klimawandel. Welche Zusammenhänge gibt es denn zwischen unserem Essen und der Erderwärmung?
Der Klimawandel betrifft den Gesamtkomplex unseres Essens. 30 Prozent der Klimagase entstehen beim Weg der Nahrung vom Acker auf den Teller. Produkte wie Mais werden in Monokulturen angebaut, die ohne Chemikalien und synthetischem Stickstoffdünger nicht rentabel wären. So wird schon zu Beginn der Lebensmittelproduktion viel CO₂ produziert. Viele Treibhausgase entstehen auch durch die industrielle Fleischproduktion. Zudem wird im Endkundenbereich, besonders bei Billigprodukten, viel Essen weggeworfen. Dieses Wegwerfen von vergebens produzierter Nahrung ist ein weiteres Problem. Gleichzeitig verfüttern wir viele leere Kalorien an uns selbst, die später ausschließlich als Fett an unseren Körpern hängen. Am Ende sieht es so aus: Wir produzieren Klimaabgase, die hoch gefährlich sind, mit Lebensmitteln, die ebenfalls hoch gefährlich sind. Wir bewegen uns in einem Kreislauf, der unsere Existenz gefährdet.
Nicht zufällig nennen Sie die großen Lebensmittelunternehmen „Big Food“ in Anlehnung an den Begriff „Big Tobacco“ aus den 60er-Jahren. Damals wurde der Zusammenhang zwischen Rauchen und Krebs deutlich. Seitdem wurde der Tabakindustrie von der Politik mit zahlreichen Gesetzen und Verboten weltweit sehr viel Druck gemacht – mit Erfolg. Warum passiert das nicht auch in Deutschland mit der Industrie, die hochverarbeitete Nahrungsmittel herstellt? Schließlich kommen mit einer adipösen Gesellschaft große Herausforderungen auf Politik und Wirtschaft zu.
Dafür gibt es viele Gründe. Zum einen haben wir das Ernährungsproblem individualisiert und die Schuld für ihr Übergewicht den Menschen zugeschoben – weg von der Industrie. Außerdem ist die Ernährungsdebatte nicht besonders populär in der Politik. Den Grünen ist so beispielsweise der „Veggie-Day“ sehr auf die Füße gefallen. Wer versucht, den Menschen auf dem Teller rumzurangieren, muss um seine Wiederwahl fürchten.
Zuletzt gibt es in Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkriegs ein enges Netzwerk zwischen Administration, Industrie und Landwirtschaft. Diese Zusammenarbeit hat der Gesellschaft aus dem Hunger nach dem Krieg herausgeholfen und das Wirtschaftswunder in Gang gebracht. Da heißt es: „Wir haben das Land mit diesem industriellen Agrarsystem gerettet, damit wollen wir nun weiterfahren.“ Die Probleme, die dieses Agrar- und Ernährungssystem verursacht, wurden dabei aber lange übersehen. Zudem wurde die Ernährungsindustrie nicht angegangen, sondern stattdessen in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden. Durch diese stille Koalition hatte die Industrie weitgehend freie Hand. Heute stehen wir vor der Situation, dass wir, wenn wir jetzt nichts ändern, eine harte Bruchlandung erleben werden.
Das klingt nach sehr großen Aufgaben für die Politik. Derzeit stehen aber ganz andere Themen auf der Agenda – Corona, der Krieg in der Ukraine und die Abkehr von fossilen Brennstoffen aus Russland. Was könnte jeder Einzelne tun, um die Politik zum Umdenken zu bewegen?
Ich stimme zu, die Politik ist derzeit massiv mit Krisen überfrachtet. Hinzu kommt, dass die Verfettungskrise nicht von heute auf morgen gefährlich werden wird. Wo die große Politik nicht handelt, kann der Einzelne etwas tun. Beispielsweise auf kommunaler Ebene, besonders im Kantinenbereich. Dort – von der Kita über die Universität bis zum Altenheim – können wir unser Ernährungssystem umstrukturieren. Wo Massenverpflegung vorgenommen wird, haben wir den größten Hebel für Veränderung. Denn: Viele dieser Institutionen sind in kommunaler oder kirchlicher Hand. In Kitas und Schulen könnten Eltern Einfluss nehmen. Dort darf keine Industriekost angeboten werden, dort muss wieder gesundes Essen gekocht werden. Die Verpflegung muss zudem kostenlos sein. So wird sichergestellt, dass sich alle Menschen gutes Essen leisten können.
Wo die große Politik nicht handelt, kann der Einzelne etwas tun. Beispielsweise auf kommunaler Ebene, besonders im Kantinenbereich.
Zum Schluss müssen wir es machen, wie beim Rauchen: In Bereichen, wo Kinder und Jugendliche unterwegs sind, dürfen diese hoch verarbeiteten Produkte nicht beworben, verkauft oder gegessen und getrunken werden. Wer fragt, wer das bezahlen soll, den frage ich: Wer soll denn später die gesundheitlichen Folgen bezahlen? Das Rad muss von unten in Bewegung gesetzt werden. Erwarten Sie nichts von der Bundespolitik oder von der EU – diese Institutionen sind derzeit noch viel zu weit weg von dem Problem, als dass sie ins Handeln kommen würden.
„Stille Killer. Wie Big Food unsere Gesundheit gefährdet“ von Wilfried Bommert und Christina Sartori ist am 19. April im Hirzel-Verlag erschienen.