Alle im grünen Bereich: Warum verhalten wir uns in der Natur oft so daneben?
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Bei Temperaturen über 30 Grad zieht es Massen von Menschen an den Eisbach im Englischen Garten.
© Quelle: picture alliance / Martin Ley
Hannover. Handeloh war einmal ein verträumtes Örtchen in der Lüneburger Heide. Hier führt der Heidschnuckenweg entlang – der schönste Wanderweg Deutschlands, wie eine Jury schon im Jahr 2014 befand. Gewandert sind hier bis vor Kurzem vor allem ältere Semester, außerhalb der Heideblüte war nicht besonders viel los.
Dann kamen Corona – und tolle Bilder auf Instagram. Wanderselfies aus dem Büsenbachtal fluteten das Netz. Handeloh wurde über Nacht zu einem Hotspot für Ausflügler. In der Pandemie suchten viele Menschen ihr Heil im Grünen, doch in Handeloh war nicht nur die Zahl der Besucher das Problem. Es seien immer mehr Menschen gekommen, die sich sonst nicht in die Natur begeben und gar nicht wissen, wie man schonend mit Flora, Fauna und Landschaft umgeht, heißt es in der Geschäftsstelle des Naturparks Lüneburger Heide.
Anfang dieses Jahres reagierten die Verantwortlichen: Eine Rangerin wacht jetzt über das Büsenbachtal, eine elektronische Besucherzählanlage soll Auskunft darüber geben, wie viele Wanderer gerade die Heide durchstreifen.
Wächter, die wilde Partys im Wald beenden, und Ampeln vor dem Eintritt in Naturschutzgebiete – muss das wirklich sein?
Umweltverbände haben sich zu Beginn der Corona-Pandemie über das neue Interesse an Fauna und Flora gefreut. Tatsächlich sind auch heute noch Seminare über Insekten oder vogelkundliche Wanderungen so gut besucht wie seit Jahrzehnten nicht. Zugleich aber zertrampeln Heerscharen von Wanderern große Frühblühervorkommen im Wald und lassen ihre Hunde ohne Leine in der Schonzeit laufen. Mountainbiker liefern sich Scharmützel mit Wanderern. Beide Seiten führen, wenn es denn überhaupt zu einer sachlichen Debatte kommt, das gleiche Argument an: das Recht auf Erholung in der Natur.
Die Natur ist in Deutschland Allgemeingut. Jeder hat das Recht auf Erholung in einem Raum, in dem sich im wahrsten Sinne des Wortes abschalten lässt – sofern er sich an Regeln hält, die zum Beispiel in Naturschutzgebieten gelten. Das Verlassen der Wege ist dort häufig verboten, doch immer mehr Menschen halten sich nicht daran.
Warum das so ist, sollte eine Studie herausfinden, die kürzlich bei einer Anhörung des Tourismusausschusses des Bundestages vorgestellt wurde. Das Ergebnis: Das Verhalten in der Natur hängt nicht unbedingt vom Wissen der Besucher über Pflanzen und Tierwelt ab. „Insbesondere bei den gut gebildeten Besuchern gibt es eine große Lücke zwischen Wissen und Handeln“, sagt Jan Wildefeld, Geschäftsführer des Verbandes Nationale Naturlandschaften. Den Menschen seien zwar die Naturschutzregeln bewusst, aber sie trügen „nicht unbedingt aktiv zu deren Einhaltung bei“.
Die Folgen sind nicht nur eine zunehmende Vermüllung von Parks und Wäldern, sondern auch Störungen in sehr sensiblen Ökosystemen, die wegen Hitze und Trockenheit ohnehin schon unter Stress stehen. Förster beobachten, dass Menschenmassen, Lärm und frei laufende Hunde zunehmend zu Stress beim Rotwild führen. Die Folge davon: Das Wild erhöht den Stoffwechsel, braucht mehr Futter – und frisst junge Bäume, die gerade mit viel Aufwand (und hohen Kosten) für die Wiederaufforstung gepflanzt worden sind.
In den 16 Nationalparks, 104 Naturparks und 18 Biosphärenreservaten in Deutschland – alles Orte, in denen sich die Natur eigentlich besonders gut ungestört entwickeln soll – rüsten die Behörden jetzt nach. Ranger sind bald die Regel, immer neue Infotafeln versperren bisweilen schon den Blick ins Grün.
Es müsse auch von den offiziellen Stellen an der Kommunikation gearbeitet werden, sagt Ulrich Köster, Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Naturparks. Ihm schwebt eine bundesweite Kampagne vor, die die Menschen einerseits in die Parks einlade, gleichzeitig sensibilisiere und auf weniger besuchte Gegenden aufmerksam mache.
Das heißt aber auch: Was nützen alle Ranger und Verhaltensregeln, wenn die Masse der Erholungsuchenden einfach zu groß ist?
Overtourism ist ein relativ neues Phänomen, das man vor Corona an besonderen Hotspots wie Barcelona, Venedig oder Traumstränden in Thailand kannte. Beschrieben werden damit vor allem Konflikte, die mit den Einwohnern entstehen. Kommen zu viele Touristen, sind die Straßen verstopft, steigen die Preise und verschwinden die günstigen Wohnungen, weil teure Ferienunterkünfte mehr Geld bringen.
Zu Beginn der Pandemie haben viele Menschen in den betroffenen Regionen und Städten die Hoffnung gehabt, dass sich das Problem erledigen könnte. Alle Welt redete schließlich vom sozialen Abstandhalten und vom Verzicht. Das passt wohl kaum zusammen mit den Bildern von Tausenden Kreuzfahrttouristen, die für ein paar Stunden die Innenstadt von Venedig stürmen.
Es ist wie in vielen anderen Bereichen auch: Die Hoffnung, dass Corona etwas Positives im Miteinander bewirken könnte, ist rasant schnell wieder verflogen. In den jüngsten Osterferien – die Delta-Corona-Welle war noch lange nicht beendet – war der Wunsch der Deutschen nach einem Mallorca-Urlaub so groß, dass die Lufthansa riesige Langstrecken-Flugzeuge nach Palma einsetzen musste. Zwei Jahre war Ruhe am Ballermann – jetzt bewegt das Schicksal von Kegelbrüdern aus Münster, die betrunken eine Bar angezündet haben sollen, die Republik.
Willkommen zurück im Massentourismus. Aber hatten wir mit der viel beschworenen Rückkehr zur Normalität nicht doch etwas anderes gemeint?
Als Symbol für die ökologischen Folgen eines ungezügelten Tourismus gilt schon lange Thailands Strand Maya Bay. Er war ein Geheimtipp, bis der Film „The Beach“ mit Leonardo DiCaprio weltweit in die Kinos kam. Von da an war Maya Bay „The Beach“ – und das Ziel von zigtausend Urlaubern und Erholungshungrigen aus aller Welt.
Die Folgen waren fatal. Im Juni 2018, als das Korallenriff kurz vor dem ökologischen Kollaps stand, sperrte die Regierung den Traumstrand. Corona, so hofften Meeresbiologen und Naturschützer, könnte die Lösung bringen. Thailand hatte sich, wie alle Länder im asiatischen Raum, komplett vom Rest der Welt isoliert, der Tourismus fiel in sich zusammen. „The Beach“ alias Maya Bay erholte sich gründlich. Sogar eine besonders seltene Haiart kehrte in die Bucht zurück.
Anfang dieses Jahres öffnete sich Thailand wieder ganz vorsichtig für Reisende. Schritt für Schritt entfielen die Corona-Auflagen. Es wurde wieder voll am Traumstrand, nach wenigen Wochen schlugen Naturschützer erneut Alarm. Der Regierung, die so sehr auf die Rückkehr des Tourismus in ihrem Land gehofft hatte, blieb keine andere Wahl: Ende Mai wurde „The Beach“ wieder gesperrt. Zunächst bis Ende August geht hier gar nichts. Danach, so die Hoffnung, könnten die Besucherströme vielleicht besser gelenkt werden. Die nächste Enttäuschung ist programmiert.
Overtourism entsteht, weil es immer mehr Besucher an wenige besonders beliebte oder „hippe“ Orte zieht – egal, ob in Thailand, in Harz und Heide oder am Ammersee. Den Influencern in sozialen Medien möchten Naturschützer mit digitalen Rangern begegnen, die Menschen von den bekannten Trampelpfaden weglocken und neue Wege in die Natur aufzeigen.
Menschen, die sich schon länger mit dem Phänomen beschäftigen, sind skeptisch. Nicola Förg, Krimibestsellerautorin aus Bayern, hat dem Thema schon einige Romane gewidmet. Beim jüngsten Krimi schlägt der Kulturpessimismus voll durch. „Ich gönne jedem und jeder alle Freiheit – aber nur bis zu dem Punkt, wo die Freiheit anderer eingeschränkt wird“, schreibt Förg. „Ich wünsche allen einen wunderschönen Tag in den Bergen – auf den Wegen mit Respekt vor entgegenkommenden Wanderern, Radlern, Hundehaltern. Dabei wünsche ich ihnen allerdings, dass sie mal still wären und einfach nur schnuppern würden, sehen und hören, und nicht alles anfassen oder gleich ausreißen …“ Die Menschen, schreibt die Bestsellerautorin, seien schon vor Corona Egoisten gewesen. Und kaum jemand habe „die Lebensprüfung Corona mit guten Noten absolviert“.
Die Autorin lebt im Voralpenland, einem schon traditionellen Hotspot im deutschen Tourismus. Der vergangene Sommer muss hart gewesen sein an Seen und Wiesen – und nichts spricht dafür, dass es in diesem Jahr viel entspannter werden dürfte. Das Mordopfer in Förgs Roman „Hohe Wogen“ ist eine Stand‑up-Paddlerin auf dem Ammersee. Ein Motiv haben nicht zuletzt Naturschützer, die sich über die neue Welle an Wassersportlern ärgern. Sie dürfte kaum abebben: Drei Wochen nach Erscheinen des Romans boten gleich zwei Discounter Plastikbretter für Paddler zum Schleuderpreis an.