Deutscher Buchpreis: Autorin Terézia Mora und ihr Gespür für Heimatlose
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Nominiert für den Deutschen Buchpreis: Terézia Mora.
© Quelle: Frank Rumpenhorst/dpa
Hannover. Jetzt also eine junge Frau. In drei Romanen hat Terézia Mora zwischen 2009 und 2019 von Darius Kopp erzählt, einem Berliner IT-Spezialisten, dessen Leben nach dem Suizid seiner Ehefrau zerbricht. Und nun taucht eine neue Figur im Erzählkosmos der Autorin auf: Muna – klug, schön und mit einem fatalen Hang zu einem Mann, der ihr nicht guttut. Der ihr wehtut, und das nicht nur psychisch.
Sonderlich behütet wächst Muna nicht auf. „Nachdem sie meine Mutter mit Blaulicht weggebracht hatten, ging ich in den Hof, wo das Fahrrad stand, und schon wieder hatte es einen Platten. Ihr miesen Arschlöcher! Der Innenhof schallte.“ So setzt Moras Buch „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ein, das neben Romanen von Necati Öziri, Anne Rabe, Tonio Schachinger, Sylvie Schenk und Ulrike Sterblich auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht, der am 16. Oktober auf der Frankfurter Buchmesse verliehen wird. Der Vater ist vor ein paar Jahren gestorben. Die Mutter hat gerade eine Überdosis Tabletten mit viel Rotwein hinuntergespült. Sie wird überleben, doch eine allzu große Hilfe wird die Schauspielerin an einer ostdeutschen Provinzbühne ihrer Tochter weiterhin nicht sein.
Die ist gerade 18 geworden, heillos verliebt in den Französischlehrer und Fotografen Magnus, den sie als Praktikantin in der Redaktion eines Kulturmagazins kennenlernt. Dann aber, nach einer gemeinsamen Nacht, verschwindet Magnus, der um einiges älter ist. Kurz darauf fällt die Mauer, und Muna versucht, als Studentin in Berlin Fuß zu fassen.
Die Figur der jungen Frau begleitet Mora schon eine ganze Weile. Bereits in ihrem vor zwei Jahren veröffentlichten Tage- und Arbeitsbuch „Fleckenverlauf“, das den Zeitraum von 2014 bis 2020 umfasst, finden sich Überlegungen zu diesem Romanprojekt.
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Eine bewegende Geschichte: „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ von Terézia Mora.
© Quelle: Luchterhand/dpa
Wann ist Muna das erste Mal bei ihr aufgetaucht? „Genau weiß ich es nicht mehr, aber ich kann mir denken, dass das zu dem Zeitpunkt war, als ich selbst die Hälfte meiner statistischen Lebenserwartung erreicht hatte. ‚Auf halbem Wege des Menschenlebens‘ sozusagen“, sagt die Schriftstellerin. „Ich arbeitete damals noch an der Darius-Kopp-Trilogie. Und wie bei allen Büchern bisher: Wenn ich merke, das eine Thema, das ich unbedingt schreiben wollte, geht auf seinen Abschluss zu, taucht das nächste auf. Und das war dann Muna.“ Mehr als zehn Jahre hatte die 52-Jährige an ihrer Kopp-Trilogie gearbeitet.
Für den zweiten Band, „Das Ungeheuer“, hat sie 2013 den Deutschen Buchpreis erhalten. Es ist ein herausfordernder Roman: Nach dem Suizid seiner Frau Flora, einer gebürtigen Ungarin und Übersetzerin, irrt Kopp durch Osteuropa. Auf der oberen Hälfte der Seiten schildert die Autorin Kopps Odyssee und seine Trauer. Auf dem unteren Teil, unter einem schwarzen Strich, lesen wir Tagebucheinträge Floras, die schwer depressiv war und sich mehr und mehr von ihrem Mann entfremdete.
Mit Formbewusstsein und Einfühlungskraft
„Als Schriftstellerin gelingt es Mora, zwei Charaktere, die sich im Leben verfehlten, und zwei Textformen miteinander in Verbindung zu setzen“, lobte die Jury des Buchpreises damals. „Terézia Mora vereint hohes literarisches Formbewusstsein mit Einfühlungskraft. ‚Das Ungeheuer‘ ist ein tief bewegender und zeitdiagnostischer Roman.“
Alle Romane der 52-Jährigen sind komplex konstruiert und weisen stets über private Geschichten hinaus. In „Muna“ begibt sich die Leserin, begibt sich der Leser auf eine Reise durch die Jahrzehnte – und wird auch daran erinnert, wie sehr sich etwa Berlin verändert und gentrifiziert hat, wo die Hauptfigur kurz nach dem Fall der Mauer ankommt.
Mora selbst lebt seit 1990 in Berlin. Geboren wurde sie 1971 im ungarischen Sopron, nahe der Grenze zu Österreich; sie stammt aus einer deutschsprachigen Familie. Mit dem Erzählungsband „Seltsame Materie“ – für einen Auszug daraus erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis – debütierte sie 1999. Sie hat mehrere, teils preisgekrönte Bücher geschrieben und wichtige Romane aus dem Ungarischen übersetzt – darunter Bücher von Péter Esterházy wie dessen monumentale Familienchronologie „Harmonia Caelestis“.
Sie erträgt Demütigung und Gewalt
Moras neue Hauptfigur Muna bekommt nach und nach in Berlin Boden unter den Füßen. Sie erhält eine Stelle für ein Forschungsprojekt in Wien zu „Werken von Autorinnen mit Migrationshintergrund in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie“. – „Migrationshintergrund? In der Monarchie? Ich kommentierte das nicht“, heißt es im Buch.
Die junge Frau träumt davon, selbst literarisch zu schreiben – und sie trifft nach Jahren per Zufall Magnus wieder. Mehr und mehr gibt sie ihre beruflichen Ambitionen auf, unternimmt nahezu alles, um in seiner Nähe zu sein, von ihm begehrt und geliebt zu werden. Und erträgt Abweisung, Demütigung, Gewalt. Was hat Mora an dieser Figur interessiert? Die Frau, die ihre Talente nicht voll entfalten, ihr Leben nicht voll „erblühen“ lassen könne wie schon Flora in den Darius-Kopp-Romanen, sei generell ein Charakter, der sie umtreibe, beschreibt es Mora. Sie treibe die Frage um, was ein „erfolgreiches Leben“ sei.
„Dazu kamen bei Muna noch die Beobachtungen in meinem Umfeld, so wie bei allen anderen Büchern bislang auch“, sagt die Autorin. „Die noch so kleinen Anzeichen von Beziehungsgewalt ebenso wie von Machtmissbrauch im beruflichen Umfeld haben mich immer sehr irritiert.“ In dem Roman habe sie eine Auswahl davon verarbeitet. Selbstverständlich so konstruiert, dass vom Vorbild in der Wirklichkeit „kein Stein auf dem anderen“ geblieben sei – „das wäre auch nicht notwendig gewesen, denn es handelt sich um typische Situationen“, sagt Mora.
In ihren Büchern widme Mora sich „Außenseitern und Heimatlosen, prekären Existenzen und Menschen auf der Suche und trifft damit schmerzlich den Nerv unserer Zeit“, hieß es in der Begründung der Jury für den Georg-Büchner-Preis an sie. Die wichtigste Auszeichnung für Literatur im deutschsprachigen Raum hat die Schriftstellerin im Jahr 2018 erhalten.
Die Frau bleibt Außenseiterin
Auch Muna bleibt oft Außenseiterin und ist manchmal nur schwer zu begreifen, sie wirkt wenig nahbar und letztlich auch heimatlos. Hängt Munas Verfangensein in dem, was man „toxische Beziehung“ nennt, auch mit ihrer Kindheit in der DDR zusammen? Nein, sagt Mora, „die ostdeutsche Herkunft habe ich nur genommen, weil das etwas ist, womit ich mich besser auskenne, als wenn die Figur in einer freiheitlichen Gesellschaft aufgewachsen wäre“. Hätte sie sich für einen „westlichen Hintergrund“ entschieden, wäre die Geschichte sicher insofern anders gewesen, dass die Frauenbewegung eventuell eine größere Rolle gespielt hätte, sagt Mora.
Unabhängig davon könne es passieren, „dass man immer und immer wieder in respektlose oder gar missbräuchliche Beziehungen gerät. Weil uns noch etwas anderes beeinflusst als die gerade gegebene juristische Lage oder der aktuelle gesellschaftliche Diskurs“, sagt Mora. „Ob in einer Diktatur, die versucht, das Individuum zu vernichten, oder in einer sehr individualistischen Gesellschaft: Unser Leben besteht aus einer Reihe persönlicher Entscheidungen, Erfolgen und Niederlagen.“
Sie habe hoffentlich darstellen können, dass für ihre Hauptfigur alle anderen möglichen Partner oder gar Partnerlosigkeit im Vergleich zu Magnus nicht reizvoll genug seien. „Sie hat sich auf diesen Mann kapriziert, hat ihn als ihr Zuhause auserkoren, auch wenn es ein Zuhause voller Erniedrigung, Verachtung, Respektlosigkeit und Gewalt ist. Als gäbe es keine Alternative. Manchmal sind wir so.“
Auftakt einer neuen Trilogie
Absichtlich habe sie eine Figur gewählt, die nicht durch Gesetze, Religion, finanzielle Abhängigkeit, mangelnde Bildung oder weil sie Kinder hat oder weil der Mann kriminell und eine konkrete Gefahr für ihr Leben ist dazu gezwungen ist, in der Beziehung zu bleiben. „Selbst so jemandem wie Muna kann es passieren. Es kann uns allen passieren.“
Am Endes des Buches hat Muna, statistisch betrachtet, die Hälfte ihres Lebens erreicht. Dafür steht auch der Untertitel des Romans. Ursprünglich hatte Mora überlegt, das Buch „Muna oder Über die Sehnsucht“ zu nennen. Davon ist sie abgerückt. An einem anderen Plan will sie festhalten: Der neue Roman ist Auftakt einer Trilogie über drei Frauen.
Terézia Mora: „Muna oder Die Hälfte des Lebens“. Luchterhand-Verlag. 441 Seiten, 25 Euro. Auf ihrer Lesereise ist die Autorin unter anderem in Dresden (23. September), Köln (18. Oktober) und Lüneburg (15. November) zu Gast.