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Was wurde im Kampf gegen das Patriarchat erreicht, Tori Amos?

„Es ging mir so schlecht, wie ich das aus meinem Leben bisher nicht kannte“: Tori Amos spricht offen über die vergangene Zeit.

„Es ging mir so schlecht, wie ich das aus meinem Leben bisher nicht kannte“: Tori Amos spricht offen über die vergangene Zeit.

Tori Amos, Ihr neues Album steckt voller Wassermetaphern. Das beginnt beim Titelsong „Ocean to ­Ocean“, weitere Lieder heißen „Swim to New York City“ oder „Metal Water Wood“. Sie leben in Cornwall praktisch direkt am Meer. Wie intensiv ist Ihr Verhältnis zum Wasser?

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Zum Schwimmen ist es bei uns schon etwas frisch, da bevorzuge ich das Meer in Florida, wo ich mich unter normalen Umständen häufig aufhalte, weil wir dort unseren Zweitwohnsitz haben. Für die Fotos im Album-Booklet bin ich nun jedoch so innig mit dem Ozean vor unserer Haustür in Berührung gekommen wie lange nicht mehr. Wir haben die Bilder in einer unglaublich schönen Wasserhöhle gemacht, wir mussten ein bisschen tauchen, um dorthin zu kommen. Zum Glück trug ich einen Neoprenanzug. Aber wie Sie sich vermutlich schon denken können, ist das Wasser in erster Linie als Metapher zu sehen.

Als Metapher wofür?

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Für die emotionale Verfassung, in der ich mich befand, bevor und während ich diese Songs schrieb. Ich bin normalerweise ein Feuermensch, doch nun fand ich mich Anfang des Jahres in einer Situation wieder, in der meine üblichen Werkzeuge und Überlebensstrategien versagten. Ich musste gewissermaßen ins Wasser gehen, das Wasser umarmen, mich von ihm verschlingen lassen und am Ende merken, dass ich nicht ertrunken bin. Sondern lebe.

Haben Sie an Depressionen gelitten?

Es ging ganz sicher in diese Richtung. Ich war unendlich niedergeschlagen. Eine mentale und emotionale Lähmung hatte von mir Besitz ergriffen. Etwa drei Wochen lang saß ich so gut wie reglos einfach nur da. Es ging mir so schlecht, wie ich das aus meinem Leben bisher nicht kannte.

„Nur um Haaresbreite hat unsere Demokratie überlebt“

Kam die Niedergeschlagenheit überraschend?

Ja, sie kam überraschend. Die Welle, die mich verschluckte, hatte sich nicht angekündigt. Richtig schlimm wurde es Anfang Januar, als ich wie der Rest der Welt fassungslos vor dem Fernseher saß und zusehen musste, wie ein Mob aus Menschen, die das demokratische System verabscheuen, das Capitol in Washington stürmte. Vor allem war ich tieftraurig darüber, dass eine Reihe unserer gewählten Vertreter bereit war, den Mehrheitswillen der Wählerinnen und Wähler zu ignorieren. Für ihre Macht waren sie willens, das politische System in den Boden zu rammen. Und die hässliche Fratze dieser Scheußlichkeiten war Donald Trump. Nur um Haaresbreite hat unsere Demokratie überlebt. Aber ich bewegte mich durch diese Ereignisse immer tiefer auf einem dunklen Pfad Richtung Ratlosigkeit und endloser Traurigkeit.

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Ein Quasiputschversuch, das Virus, der Lockdown und auch noch die Trauer um Ihre Mutter, die 2019 nach einem Schlaganfall starb. Hat all das zu „Ocean to Ocean“ beigetragen?

Ja. Man weiß nie, welcher Tropfen es schließlich ist, der das Fass zum Überlaufen bringt. Es war eine kumulative Lebenskrise. Und ich wollte nicht dem amerikanischen Klischee der „Alles wird gut“-Phrasen entsprechen. Ich wollte in meinem Schmerz hocken, eins werden mit der Wahrheit, mich nicht verschonen. Der Schmerz war sehr groß, und ich hatte meine Mutter nicht mehr, die ich immer angerufen hatte, um mit ihr über die verrückten Zeiten, in denen wir lebten, zu sprechen. Alles brach zusammen. Und dann schrieb ich „Metal Water Wood“ – und plötzlich sah ich einen Ausweg aus meiner persönlichen Hölle.

Sie hatten ursprünglich ein Album mit ganz anderen, helleren, vielleicht auch oberflächlicheren Songs veröffentlichen wollen.

Ja, aber dieses Material passte einfach nicht zu mir in dieser Situation. Das Album, das so gut wie fertig war, kam erst mal in den Schrank. Ich war auf einer ganz anderen Frequenz unterwegs, und nun schickten mich die Musen auf diese Reise, auf der „Ocean to ­Ocean“ entstand.

Hat auch die beeindruckende Natur in Cornwall geholfen, Sie aus Ihrer mentalen Düsternis zu befreien?

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Ja, sehr sogar. Ich habe mich oft in den Wind gestellt und durchpusten lassen. Die Winterstürme in Cornwall haben eine Wildheit, die Respekt und Ehrfurcht abverlangt. Das Meer kann röhren, es kann machtvoll sein und einschüchternd. Da draußen zu stehen und sich dieser Landschaft, dieser Witterung hinzugeben war ein überwältigendes Gefühl, als ob mich die Stürme zurück ins Leben schleuderten.

Wer sich mit dem Meer beschäftigt, kommt auch um Klimawandel, Plastikmüll und Überfischung nicht herum. Wie intensiv sprechen Sie zu Hause über solche Themen?

Die jüngere Generation ist sehr besorgt. Während des Lockdowns zeigte meine Tochter Tash, die 21 ist, eigentlich in London lebt, aber nun meist bei uns in Cornwall war, mir eine Menge erschütternder Dokumentationen wie „Seaspiracy“ über die ruchlose Ausbeutung der Weltmeere. Die Youngsters sind so leidenschaftlich, dass mir das Hoffnung macht. Die Jugend ist vehement gewillt, die Erde zu erhalten und die Dinge zu drehen. Sie sagt uns, wo es langgeht, bläst uns, wenn nötig, den Marsch, und das macht mir Mut.

„Die zwei sind nämlich wirklich witzig und cool“

Sie haben die vergangenen anderthalb Jahre nahezu komplett mit Ihrer Tochter Tash und Ihrem Mann Mark, der auch Ihr Toningenieur ist, verbracht. Hatte die Zeit trotz Pandemie auch etwas Angenehmes?

Natürlich. Tash und Mark sind unter normalen Umständen eigentlich immer am Motzen, es ist ihnen zu kalt, zu warm, was auch immer. Aber in echten Ausnahmesituationen, wenn alles den Bach runtergeht, dann laufen sie zur Höchstform auf und kramen ihren geballten, echt ansteckenden Humor raus. Die zwei sind nämlich wirklich witzig und cool. Ich sage mal so: Wenn du schon zig Monate am Stück mit nur zwei Personen verbringen musst, dann achte darauf, dass es genau diese beiden sind. (lacht)

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Die neuen Songs sind getragen von Ihrem Gesang und Ihrem Klavierspiel. Sie erinnern stilistisch an Ihre Anfänge mit dem Album „Little Earthquakes“, das 1992 rauskam und den Beginn Ihrer außergewöhnlichen Karriere markierte. Ist „Ocean to Ocean“ eine bewusste Rückkehr zu Ihren melodisch-intensiven Wurzeln?

Ja, ich sehe diese Parallelen auch. Vielleicht hat das damit zu tun, dass ich mich auch mit „Little Earthquakes“ aus einer schweren Krise befreit habe. Das Album entstand nach meiner Vergewaltigung und nach der Zurückweisung, die ich zuvor in der Musikindustrie erlebt hatte. In dem neuen Song „29 Years“ besuche ich den tiefdunklen Ort von damals noch einmal und wünsche mir, jetzt endgültig damit abschließen zu können.

„Die Zahl der Frauen, die uns anrufen, ist seit Corona wirklich durch die Decke gegangen“

Sie kämpfen seit jeher gegen das Patriarchat. Was ist in den vergangenen Jahren, auch wenn man an Initiativen wie #MeToo denkt, erreicht worden?

(seufzt) Zwei Schritte vorwärts, drei zurück.

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Warum sind Sie so pessimistisch?

Die Zahlen, die wir aktuell bei RAINN auf dem Tisch haben, sind erschütternd.

RAINN ist die Abkürzung für „Rape, Abuse and Incest National Network“. Sie waren die erste Sprecherin dieser 1994 gegründeten und inzwischen größten Organisation in den USA, die sich gegen sexuelle Gewalt engagiert. Bis heute sind Sie dort sehr aktiv. Was können Sie berichten?

Die Zahl der Frauen, die uns anrufen, ist seit Corona wirklich durch die Decke gegangen. Es ist schockierend, wie viele Minderjährige uns kontaktieren. Der Lockdown war in dieser Hinsicht verheerend.

Man hat das immer befürchtet, aber während der Pandemie auch etwas verdrängt, weil sich alles auf die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus konzentriert hat.

Da die Kinder monatelang nicht zur Schule gehen durften, haben die Lehrerinnen und Lehrer nicht bemerken können, ob etwas nicht stimmt. Es ist viel mehr im Verborgenen passiert. Die Kinder litten unter dem Radar, weil die Aufmerksamkeit fehlte.

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Aber ist nicht doch auch das Pro­blem­be­wusst­sein im Hinblick auf sexuelle und häusliche Gewalt gewachsen? Schauen wir nicht alles in allem genauer hin als früher?

Das Problembewusstsein ist größer, aber unabhängig davon sind auch die Zahlen größer. Für die Intensität der Debatten, die wir seit vielen Jahren haben, ist die Zahl der Gewaltfälle viel zu hoch. Das Leid nimmt nicht ab, und deshalb bin ich nicht optimistisch. Ich frage mich, was passieren muss, damit wirklich alle Menschen verstehen, dass sie andere Menschen schlichtweg zerstören, wenn sie ihnen so etwas antun. Irgendwie müssen wir auch die emotional verkümmerten Krüppel erreichen.

Wie denn?

Zuerst brauchen wir Gesetze, am Arbeitsplatz, überall. Jedem Menschen muss klar sein, dass es inakzeptabel ist und auch sanktioniert wird, andere zu verletzen, herabzuwürdigen, zu belästigen, ihnen nachzustellen. Ich denke, die Kunst ist kein so schlechter Ort, ein solches Problembewusstsein zu schaffen und zu schärfen.

Engagierte Musikerin

Im Alter von zwei Jahren begann Tori Amos mit dem Klavierspielen. Bereits als 13-Jährige trat sie, begleitet von ihrem Vater als Aufpasser, in Musikclubs auf. Da hatte die 1963 in North Carolina geborene Amos ihre Ausbildung als klassische Konzertpianistin abgebrochen, wollte eigene Musik machen.

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1992 erschien Amos‘ erfolgreiches Debütalbum „Little Earthquakes“. „Under the Pink“, das zwei Jahre später herauskam, war ein noch größerer kommerzieller Erfolg. Die Pianistin und Sängerin hat seitdem kontinuierlich Alben veröffentlicht und sich immer wieder als offen für neue musikalische Wege gezeigt. So entstand 2011 „Night of Hunters“, erschienen beim Label Deutsche Grammophon. Das Album besteht aus 14 Stücken, deren Melodien sich jeweils an ein klassisches Werk anlehnen. Dafür erhielt die US-Amerikanerin, die größtenteils in Cornwall lebt, einen Echo Klassik.

Amos war 1994 Mitbegründerin von RAINN (Rape, Abuse and Incest National Network), einer US-weiten kostenlosen Notrufhotline für Vergewaltigungsopfer, insbesondere für Frauen und Kinder. Die Musikerin hat öffentlich gemacht, selbst vergewaltigt worden zu sein.

Mit ihrem neuen Album ­„Ocean to Ocean“ geht Amos im kommenden Jahr auf Deutschland-Tournee. Geplant sind unter anderem Auftritte im Berliner Tempodrom (16. 2.), in der Alten Oper Frankfurt (20. 2.), der Münchner Philharmonie (22. 2.) und der Laeiszhalle in Hamburg (2. 3.).

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