Das Theaterereignis des Jahres: Szenen eines Krieges
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Der Tod ist allgegenwärtig: Szene aus der Berliner Inszenierung von „Die letzten Tage der Menschheit“
© Quelle: Sebastian Kreuzberger
„Extrablatt!“, „Extrablatt!“ Keine Pushmeldung, kein Liveticker berichten an diesem Abend über die neuesten politischen Entwicklungen. Wir schreiben die Jahre 1914 bis 1918, und es ist die gute alte Papierzeitung, die die Nachrichten aus aller Welt transportiert. „Extrablatt!“ – Der Thronfolger wurde ermordet. „Extrablatt!“ – Kriegserklärung an Serbien. „Extrablatt!“ – Venedig wurde bombardiert.
Als die erste Eilmeldung die Zuschauer von Karl Kraus‘ Mammutstück „Die letzten Tage der Menschheit“ in der riesigen, 16.000 Quadratmeter großen Belgienhalle in Berlin-Spandau erreicht, ist es kurz nach 18 Uhr an diesem Premierenabend im Spätaugust. Der österreichische Schauspieler und Regisseur Paulus Manker hat 2018 in einer sensationellen Inszenierung dieses als unaufführbar geltende Szenenspektakel in Wien auf die Bühne gebracht – und Abend für Abend vor meist ausverkauftem Haus gespielt. Nun hat der ehemalige Burgschauspieler Berlin als Spielort dieses Dramas über den Ersten Weltkrieg ausgesucht und seine Fassung deutlich erweitert.
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„Extrablatt!“: Auch eilige Nachrichten werden per Zeitung übermittelt.
© Quelle: Sebastian Kreuzberger
Wie schon in Österreich sprengt Manker dabei alle Ketten des klassischen Theaters. Der 63-Jährige hat das Spiel in eine mehrschiffige Hallenbasilika verlegt, die die Deutschen 1917 im französischen Valenciennes abmontiert und auf der Spandauer Insel Gartenfeld im Nordwesten Berlins wieder aufgebaut haben. Es ist der ideale Platz für dieses Stück.
Immer und überall ist Action
Die Zuschauerinnen und Zuschauer sitzen nicht wie sonst im Theater vor einer Bühne. Sie werden – vom ersten „Extrablatt!“ und dem zugehörigen Trubel sofort gefangen genommen – die kommenden siebeneinhalb Stunden immer wieder durch die Halle gehen, sie werden auf Wiener Kaffeehausstühlen sitzen, auf einem Zug fahren, durch einen symbolischen Schützengraben schreiten, sie werden ein Lazarett besuchen und das Café Serbia, sie werden Granaten hören und Kanonendonner, sie werden in einer Militärküche frisch von Soldaten zubereitetes Rührei mit Speck essen und angsterfüllten Frontheimkehrern lauschen. Immer und überall ist Action, in einer Mischung aus Reenactment und immersivem Theater wird es selten langweilig, die Zuschauer sind wunderbar integrierter Teil des Ganzen.
Ein Beispiel: Als Kaiser Franz Joseph am 21. November 1916 stirbt und die teilnehmenden Beobachter – „Extrablatt!“ – davon erfahren, setzen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler auf einem offenen Zugwagen zu einem Trauermarsch in Bewegung. Es ist mittlerweile kurz vor 22 Uhr, die Dunkelheit gräbt sich von draußen in die Industriehalle, kein künstliches Licht, nur Fackeln erhellen den Raum. Die Zuschauer gehen – inzwischen erfolgreich darauf konditioniert, immer dem Strom der Akteure zu folgen – gemessenen Schrittes dem Wagen hinterher. Zusammen mit den Schauspielerinnen und Schauspielern bildet die schreitende Masse somit den Trauerzug für den verstorbenen Kaiser. Bühne und Zuschauerraum fließen so ineinander, das Publikum wird zum Bestandteil des Dramas, man erlebt hier immersives Theater, ein begehbares Stück par excellence.
Drama galt lange als unaufführbar
Karl Kraus hat seine „Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog“ in den Jahren 1915 bis 1922 verfasst. Der Zeitzeuge hat zeitgenössische Zitate und Quellen zu einem Potpourri aus 220 Szenen zusammengefügt. Eine Haupthandlung gibt es genauso wenig wie Hauptpersonen. Die Szenen und die mehr als 1000 Personen hängen lediglich lose zusammen. Einige wie die österreichisch-jüdische Kriegsberichterstatterin Alice Schalek kehren aber immer wieder ins Geschehen zurück.
Der Autor selbst hat sein Stück für unspielbar erklärt, auch Kurt Tucholsky nannte es ein „unaufführbares Drama“. Es gibt kein umfassenderes Stück in der deutschsprachigen Theatergeschichte, eine vollständige Inszenierung würde mehrere Tage dauern.
Jammer und Kummer, Elend und Hunger
Kraus spiegelt in seinem mäandernden Konvolut die gewaltige Kriegsbegeisterung seiner Zeit, all den Hass („Serbien muss sterben“, „Jeder Stoß ein Franzos‘“), den Jammer und Kummer, das Elend und den Hunger. „Wer schwache Nerven hat, wenn auch genug starke, die Zeit zu ertragen, entferne sich von dem Spiel“, schreibt er im Vorwort zu seinem Stück. Starke Nerven braucht auch derjenige, der in diesen Tagen Kriegsszenen schwer aushalten kann, weil er die schrecklichen Ereignisse und Bilder aus Afghanistan auch in diesem historischen Setting nicht aus dem Kopf bekommt.
So bleibt die Gegenwart gegenwärtig, auch wenn eigentlich unsere Zeit verlässt, wer über die Schwelle in die Belgienhalle tritt. Eben noch hat sich der Besucher, die Besucherin mit der Luca-App registriert, den 3-G-Nachweis erbracht, Mails gecheckt, da erwartet ihn eine penibel und detailliert aufgebaute Welt aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Kein Stuhl, keine Caféschild, keine Schreibmaschine, kein Aktenordner, der nicht in die Zeit vor 100 Jahren entführt.
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Auf Schienen: Eine der Spielbühnen ist ein offener Zugwagen.
© Quelle: Sebastian Kreuzberger
Die Schauspielerinnen und Schauspieler leisten in den siebeneinhalb Stunden Unglaubliches. Für die 18 Akteure gibt es kaum eine Pause. Sie spielen, singen, schreien, laufen, locken, toben, lachen, sie müssen sich immer wieder umziehen, die nächste Rolle annehmen. Mal sind sie Soldat, mal Zivilistin, mal Schreibkraft, mal Krankenschwester, mal Koch, mal Zeitungsverleger, mal Hausfrau, mal Arbeiter, mal Fabrikant. Die Größe der Halle zwingt sie dazu, permanent laut zu sprechen, es ist kein Abend der Zwischentöne. Aber das passt ja zu den „Letzten Tagen“, in denen Kraus den militärischen wie zivilen Verbrechern des Ersten Weltkriegs seine Abscheu entgegenschleudert.
Regisseur Manker hat – so viel lässt sich spätestens um 1.30 Uhr nach dem Schlussapplaus sagen – eines der Theaterereignisse des Jahres geschaffen. Auf ihrem Weg durch die Szenen des Stücks müssen sich die Zuschauerinnen und Zuschauer ein ums andere Mal entscheiden, welcher Figur sie folgen. Gehe ich mit den Krankenschwestern ins Lazarett, oder verfolge ich die Szene mit der Schauspielerin in der russischen Kriegsgefangenschaft? Alles kann man nicht sehen, weil nicht nur in der Realität, sondern auch hier in der Inszenierung vieles simultan geschieht.
Dreigängiges Menü als Leichenschmaus für Kaiser Franz Joseph
Zwischendurch werden immer wieder – leider oft nur alkoholische – Getränke gereicht. Dazu kommen Snacks und als Höhepunkt ein dreigängiges Menü als Leichenschmaus für Kaiser Franz Joseph. Dies erklärt auch den vergleichsweise hohen Eintrittspreis. Auch wenn das Stück am Ende ein paar Längen hat und ein, zwei Stunden weniger auch gereicht hätten, hat diese Inszenierung zwei Dinge verdient: viele Zuschauer. Und ein „Extrablatt!“.
Weitere Aufführungen sind am 28. und 29. August sowie am 3. bis 5. und 10. bis 12. September zu sehen. Karten kosten inklusive Essen und Getränken 115 Euro. Weitere Informationen unter letztetage.com.