Bob Geldof: Es wäre okay, wenn das Leben hier zu Ende wäre

Sänger der Boomtown Rats: Der irische Rockmusiker Bob Geldof hat mit seiner alten Band ein neues Album aufgenommen.

Sänger der Boomtown Rats: Der irische Rockmusiker Bob Geldof hat mit seiner alten Band ein neues Album aufgenommen.

Mr. Geldof, Sie sollten mit Ihrer Band, den Boomtown Rats, heute Abend eigentlich in Brighton spielen. Doch das Leben, das wir gewohnt sind und das wir lieben, wurde durch das Coronavirus plötzlich angehalten. Wie geht es Ihnen? Wo verbringen Sie die Tage der Isolation? In London?

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Nein, London ist das Epizentrum des britischen Virus. Ich besitze ein Haus in einer Kleinstadt außerhalb Londons. Meine Töchter und ihre Ehemänner sind bei uns. Ich habe einen großen Garten, das Wetter ist schön. Uns geht es so weit gut. Wir sind hier sicher. Ich bin zudem in der glücklichen Lage, normal weiterarbeiten zu können – im Gegensatz zu vielen anderen Menschen. Ich kann Songs schreiben und mit den anderen aus der Band kommunizieren. Wir können uns unsere Aufnahmen gegenseitig schicken.

Sie sind 68, Sie gehören zur Risikogruppe der Älteren. Haben Sie Angst?

Ich möchte nicht wie Frank Sinatra klingen, doch (singend) “I’ve lived a life that’s full. I travelled each and every highway”. Es wäre okay für mich, würde das Leben hier enden. Ich lebte ein volles Leben. Ich bin in extremer Art und Weise lebendig. Es begann nicht großartig, aber nun fühle ich mich umarmt von Liebe, von meiner Familie und meinen Freunden und von Musik. Es wäre okay zu sagen: Thank you very much. Good bye.

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Als junger Mann arbeitete Bob Geldof im Schlachthof

In dem Song “Rat Trap”, dem ersten Nummer-eins-Hit der Boomtown Rats, verzweifeln Little Billy und Young Judy in der irischen Nacht der späten Siebzigerjahre. Empfinden Sie diese Situation, in der sich jeder Einzelne von uns zurzeit befindet, auch als eine Art Falle?

Nein. “Rat Trap” habe ich im Schlachthof geschrieben. Das war der einzige Job, den ich damals in Dublin finden konnte. Ich machte mir Notizen über die Menschen um mich herum. Ich konnte nicht ahnen, dass ich den ersten Nummer-eins-Hit einer irischen Band in Großbritannien schreiben würde. Ich wusste noch nicht einmal, dass aus meinen Notizen überhaupt ein Song wird. Aber ich wusste, dass ich mich irgendwann irgendwie aus dieser Falle befreien würde. Ich war noch jung. Die anderen waren dagegen in ihren Lebensumständen, ihrer Armut und ihrem Mangel an Möglichkeiten gefangen. Es war nicht nur ein Schlachthof für Tiere, sondern auch ein Schlachthof für menschliche Träume. “Rat Trap” ist ein Song über Hoffnungslosigkeit.

Sie fühlen sich durch die Ausgangsbeschränkungen nicht gefangen?

Wir befinden uns in keiner hoffnungslosen Lage. Wir wissen, dass die allermeisten Menschen das Virus überleben. Jeder Tote ist einer zu viel, aber die Welt wird hoffentlich noch einmal davonkommen.

Was macht Ihnen Hoffnung?

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Die Solidarität der Menschen. Wir entdecken gerade zwei Dinge wieder: die Gesellschaft und Selbstdisziplin.

Sie meinen, indem jeder darauf achtet, Abstand zu anderen zu halten, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen?

Wir erkennen in dieser Situation: Individualismus funktioniert nur, wenn wir zusammenhalten, uns für das Allgemeinwohl starkmachen, wenn wir empathisch handeln. Ein Individuum allein kann nicht bestehen.

Erstes Album mit den Boomtown Rats seit 36 Jahren

Die Boomtown Rats haben 36 Jahre lang kein neues Album aufgenommen. Warum jetzt?

Ich glaube, die Boomtown Rats können nur in Zeiten von Chaos und Unordnung existieren. 1975, als wir die Band gründeten, herrschte in Irland ein Bürgerkrieg, in dem 3600 Menschen ermordet wurden. Wir hatten eine komplett korrupte Regierung, eine komplett korrupte Kirche. Unsere Wirtschaft war tot. Einer ganzen Generation von Kindern wurde die Zukunft verweigert. Wie die Sex Pistols in London und die Ramones in New York erschufen auch die Boomtown Rats in Dublin einen sehr schnellen, sehr getriebenen Lärm, den Bono “the glorious noise of the Boomtown Rats” nannte. Ich hatte die Biografie von Woody Guthrie gelesen, dem Poeten der armen Leute und Bob Dylans Idol. Nachdem ich darin unseren Bandnamen gefunden hatte, war klar, dass wir eine Aufgabe zu erfüllen haben – genau wie Woody. Wir sollten Lärm machen in einem stillen, gehorsamen Land. Indem wir Songs über unsere Lebensbedingungen spielten, veränderten wir erst unser eigenes Leben und dann auch unser Land. Schließlich halfen wir dabei mit, mit Band Aid die Welt ein bisschen zu verändern.

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Wogegen lärmen Sie heute an?

Seit 2008, seit der Finanzkrise, kollabiert die Welt erneut. Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Krieg und Gewalt. Wir errichten neue Mauern. Wir lassen Menschen ertrinken. Wir wählen einen Idioten. Dann ist da dieser Brexit-Bullshit. Und nun breitet sich dieses Virus aus. Meine sechs Soloalben sind sehr introvertiert. Die Rats sind völlig anders. Es ist der Lärm, den ich brauchte, um das Jetzt zu verstehen. Wir nahmen also eine Platte auf, die sich so anhört wie der Lärm in meinem Kopf. Heute singt niemand mehr diese Art von Blues, außer uns alten Typen.

Sie besingen auf dem neuen Album eine “Trash Can World”, eine Mülleimerwelt. Die Corona-Krise wird die Welt vermutlich verändern. Werden die Menschen danach rücksichtsvoller sein, weniger egoistisch?

Ich glaube, solange die Krise andauert, veranschaulicht uns dieses angsteinflößende Virus, wie zerbrechlich und verwundbar wir sind. Die Krise erteilt uns eine Lektion in Sachen Hybris. Wir lernen: Wir sind zwar stark, wir sind sogar die stärkste Spezies, aber die Natur, die wir immer wieder ignorieren, ist stärker. Daran erinnert uns dieses Virus. Es macht uns demütig.

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Und nach der Krise? Bleibt diese demütige Haltung, wenn wir uns wieder frei bewegen können? Menschen vergessen oft schnell. Diesmal auch?

Ja, wir werden es sofort vergessen. Weil jedes Land seine Wirtschaft umgehend wiederbeleben will. Weil jeder Mensch umgehend in sein gewohntes Leben zurückkehren will. Wir werden uns sofort wieder auf die Selbstbelohnung konzentrieren. Das ist unser großer Antrieb.

In Ihrem alten Stück “The Great Song of Indifference” geht es um giftige Gleichgültigkeit. “Es interessiert mich nicht, dass ganze Wälder gerodet werden, ich spüre nicht, dass es heißer wird”, sangen Sie schon 1990. “And I don’t care at all.” Das Lied könnte gut eine Hymne der Fridays-for-Future-Schüler sein. Wie finden Sie Greta Thunberg?

Sie ist eine außergewöhnliche Person. Durch sie lernen wir etwas über die digitale Welt. Die Autoritäten interessiert digitale Empörung nicht. Genauso wenig hören sie auf Stimmen aus der dunklen Ecke der örtlichen Kneipe. Onlinepetitionen bringen sie nicht zum Nachdenken. Wir meinen zwar, dass das Internet ein demokratisiertes Werkzeug ist. Aber es ist das Gegenteil. Es wird von sehr wenigen Individuen kontrolliert. Greta ist aus dem Internet auf die Straße gezogen. Sie erinnert mich an die afroamerikanische Bürgerrechtlerin Rosa Parks. Greta hat verstanden, dass man sich auf die Agenten des Wandels einlassen muss, wenn man die Welt verändern will. Und das sind die Politiker. Politiker können zwar die digitale Empörung ignorieren – eine Bewegung auf der Straße aber nicht. Greta macht das genau richtig.

Wenn Sie den Band-Aid-Song “Do They Know It’s Christmas?”, den Sie mit Midge Ure geschrieben haben, heute hören, im Supermarkt zum Beispiel, was empfinden Sie dann?

Band Aid und Live Aid prägen mein Leben bis heute. Der Song sollte eigentlich nur fünf Wochen existieren und ist jetzt Teil unserer Kultur. Im Supermarkt geht er im Lärm der anderen Lieder unter. Dadurch, dass er bis heute in jeder Weihnachtszeit dort zu hören ist, und auch im Radio und in Filmen, spielt er immer noch viel Geld für Afrika ein. Besonders berühren mich aber die Sternsinger. Diese Kinder stehen vor deiner Haustür und singen “Stille Nacht” und andere klassische Weihnachtslieder und im nächsten Moment (singend) “It’s Christmas time, there’s no need to be afraid ...“. Das ist verrückt.

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Sie haben eine zeitlose Hymne erschaffen.

Ja. Mit Band Aid 30 sammelten wir im Jahr 2014 Geld zur Bekämpfung der Ebola-Pandemie in Westafrika. Neben Bono und Chris Martin waren auch eine Reihe neuer, junger Sänger dabei, unter anderem Sam Smith und Ed Sheeran. Ich hatte den Liedtext der aktuellen Situation angepasst, aber die beiden standen im Studio, mit geschlossenen Augen, und sangen trotzdem die ursprüngliche Fassung.

Und dann?

“Was ist los?”, fragte ich sie. Und Ed antwortete: “Wir mussten dieses Lied jedes Jahr in der Weihnachtszeit in der Schule singen.” Sie wuchsen damit auf. Sie haben den Text verinnerlicht. Und als ich ihn änderte, flippten sie aus.

Ich erlebte Ihr Konzert in Salzgitter im vorigen Jahr. Sie stoppen “I Don’t Like Mondays” noch immer an derselben Stelle wie bei Live Aid im Wembley-Stadion. Nach der Zeile “And the lesson today is how to die” halten sie inne. Warum? Aus Live-Aid-Nostalgie?

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Ursprünglich handelt der Song von einen Amoklauf an einer Schule im Jahr 1979. 1985, bei Live Aid, ging es darum, dass Millionen Menschen verhungern. Würde ich diese Zeile heute in Brighton singen, würde ich an das denken, was gerade auf der Welt passiert. Ich stoppe den Song, weil ich das Publikum, so viele Gesichter wie möglich, sehen will, und das Publikum kann mich ansehen. Wir halten gemeinsam inne. Ich will mir selbst klarmachen: Ich bin hier, in der Mitte dieses Moments, mit all diesen Menschen, die hier sind, um meine Songs zu hören – dies ist ein Konzert, nicht bloß ein Job. Ich mache das jeden Abend, es ist etwas, was ich machen muss.

In Salzgitter kamen nur wenige Hundert Zuhörer. Wenn Sie vor so wenigen Leuten spielen wie dort, sind Sie dann entsetzt oder enttäuscht?

Meine Aufgabe ist es, Songs zu schreiben, sie aufzunehmen und zu veröffentlichen und dann herumzuziehen, um sie für Menschen zu spielen. Das ist der beste Teil dieses Berufs. Die Konzerte erfüllen mich. Die Frage ist also: Würde ich mich besser fühlen, wenn in Salzgitter mehr Menschen gewesen wären? Nein. Wäre damals eine Fee zu mir in den Schlachthof gekommen, um mir zu prophezeien, dass ich meine Songs 45 Jahre später in einer kleinen Stadt in Deutschland vor 300, 400 Menschen spielen werde, ich hätte ihr nicht geglaubt. I still think it’s fucking great.

Sie haben, das weiß man, einiges durchgemacht. Nach Band Aid wurden Sie zuweilen als “Saint Bob” verspottet. Als Solokünstler konnten Sie nicht an den Erfolg der Boomtown Rats anknüpfen. Ihre Tochter Peaches starb 2014 durch eine Überdosis Heroin, wie Ihre Exfrau 14 Jahre zuvor. Die Yellow Press stürzte sich auf Sie. Am Ende ihrer Soloshows singen Sie immer “Walking Back to Happiness”. Ist Ihnen das gelungen?

Bin ich glücklich? Of course! Yeah! Die Boomtown Rats waren früher eine große Band. Schon damals hatte sich die Boulevardpresse für den Sänger interessiert. Nach Band Aid wurde ich zu einer Person des öffentlichen Lebens, genauso wie die Beatles irgendwann nicht mehr bloß eine Popgruppe waren. Viele Leute hatten Live Aid gesehen, hatten mitgefühlt und mitgefiebert. Sie wollten mehr erfahren über den Charakter dieser Person. Das ist Teil dieses Lebens. Das lässt sich nicht vermeiden.

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Was empfinden Sie als Glück?

Die erste halbe Stunde nach einem gelungenen Auftritt. In diesem Moment der völligen Erschöpfung fühle ich mich frei und sorglos, plagen mich keine Zweifel, stelle ich nichts infrage. In dieser außergewöhnlichen halben Stunde ist mir bewusst, dass ich eigentlich ein glücklicher Mensch bin. Bin ich jetzt gerade glücklich? Ja, aber dann machst du den Fernseher an und siehst die Wirklichkeit, die Wirklichkeit da draußen. Man darf glücklich sein – aber es ist nicht möglich, sich damit zufriedenzugeben, wenn man ein Mensch ist.

Live Aid, 13. Juli 1985, 12.46 Uhr. Bob Geldof steht auf der Bühne des Wembley-Stadions in London. Vor ihm 72.000 Menschen. “And the lesson today is how to die.” Die Boomtown Rats, seine Band, halten einen Moment inne nach dieser Zeile aus dem Lied “I Don’t Like Mondays”. Der damals 33-Jährige streckt die Faust in die Höhe – eine Geste des Triumphs. Er hatte eine TV-Dokumentation über die Hungersnot in Äthiopien gesehen, mit Midge Ure Band Aid gegründet und ein Benefizspektakel organisiert, “um die Welt vor dem Holocaust zu warnen, der den afrikanischen Kontinent heimsucht”, wie es das “Life”-Magazin formulierte.

Die Boomtown Rats, die sich nach Live Aid auflösten, hatten in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern eine Reihe von Hits in England, darunter die Nummer-eins-Singles “Rat Trap” und “I Don’t Like Mondays”. Geldofs musikalische Erfolge als Solokünstler waren bescheiden. Mit “The Great Song of Indifference” landete er zuletzt 1990 einen halben Hit: Platz 15. Jetzt sind die Rats mit neuem Album zurück. Viele Songs auf “Citizens of Boomtown” klingen wie Postkarten aus den Siebzigern, die heute erst ankommen. Die Gitarren glühen und glitzern nostalgisch.

Mit Band Aid und Live Aid sammelte Geldof laut eigener Website 170 Millionen Euro für die Hungernden. Das Projekt war Vorbild für eine Reihe ähnlicher Konzerte mit politischen oder sozialen Anliegen. Gemeinsam mit Bono von U2 erreichte er, dass Entwicklungsländern zugesagt wurde, einen Teil ihrer Schulden zu erlassen. Geldof war mehrmals für den Friedensnobelpreis im Gespräch.


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