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Ein ganz normaler Teenager: Warum Anne Frank immer noch fasziniert

Vorbild für die junge Generation: Das Anne-Frank-Haus will die Lebens- und Leidensgeschichte des Mädchens Anne Frank erzählen.

Vorbild für die junge Generation: Das Anne-Frank-Haus will die Lebens- und Leidensgeschichte des Mädchens Anne Frank erzählen.

Mehr als eine Million Besucher zählt das Anne-Frank-Haus in Amsterdam pro Jahr. Jedenfalls vor Corona. Stundenlange Wartezeiten nahmen die Besucher aus aller Welt in Kauf, bis sie endlich die einstige Marmeladen- und Gewürzfabrik in der Prinsengracht 263 betreten konnten. Ein schwenkbares Aktenordnerregal führte sie in das Versteck im Hinterhaus.

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Klaustrophobikern ist der Besuch des „Anne-Frank-Hauses“ nicht unbedingt zu empfehlen. Über steile Stiegen und verwinkelte Gänge werden Besucher durch das Gebäude geschleust. Acht jüdische Menschen hielten sich hier mehr als zwei Jahre lang hinter verdunkelten Fenstern versteckt, die vierköpfige Familie Frank, die dreiköpfige Familie van Pels und Fritz Pfeiffer.

Anne Frank starb in Bergen-Belsen

Am Morgen des 4. August 1944 stürmte ein SS-Kommando das Haus. Mit dem letzten Transport aus den Niederlanden wurden die Bewohner nach Auschwitz deportiert. Einige wurden schon dort ermordet, auch Annes Mutter Edith Frank-Holländer. Anne und ihre Schwester Margot starben Wochen vor Kriegsende in Bergen-Belsen an Typhus. Anne war 15 Jahre alt. Allein ihr Vater Otto Frank überlebte.

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Erst kurz vor dem Ausgang des Museums in der Prinsengracht findet sich in einem eigenen Raum das originale Tagebuch von Anne Frank, gebettet auf schwarz glänzendem Samt und geschützt unter Glas. Es gehört neben der Bibel und J. R. R. Tolkiens „Herr der Ringe“ zu den meistgelesenen Büchern überhaupt. Von keinem anderen der mehr als 20.000 untergetauchten Jüdinnen und Juden in den Niederlanden ist ein ähnliches schriftliches Zeugnis überliefert.

Figur der Zeitgeschichte

Annes Vater Otto Frank veröffentlichte das Tagebuch nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Aufzeichnungen haben Anne Frank zu einer Figur der Zeitgeschichte gemacht. Bis heute ist das Interesse an ihr immens. Deutlich wurde das zuletzt in diesen Tagen, als eine neue Theorie auftauchte, wer Annes Familie verraten haben könnte.

Dieses Rätsel ist bis heute nicht gelöst und wird es wohl auch nie sein. Ein privates Team aus Historikern, Kriminologen und einem pensionierten FBI-Agenten will in fünfjähriger Arbeit herausgefunden haben, dass ein jüdischer Notar der Denunziant war.

Der Notar Arnold van den Bergh war damals Mitglied des Judenrats und damit zunächst vor der Deportation geschützt. Doch 1944 drohte auch ihm, seiner Frau und den drei Töchtern der Tod. Sollte der Notar tatsächlich die Versteckten verraten haben, ist seine Rechnung aufgegangen: Die Familie überlebte.

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Die Untersucher berufen sich auf die Kopie einer anonymen Notiz, die Otto Frank 1946 in seinem Briefkasten gefunden hatte. Auf dem Zettel war der Name des Notars genannt. Frank hatte ihn allerdings nie preisgegeben. Er habe die Kinder des Notars nicht mit der Tat ihres Vaters belasten wollen und fürchtete neuen Antisemitismus, vermuten die Rechercheure. Die Ermittlerteam stellt klar: Die Verbrecher waren die Nazis, nicht ein Notar, der in einem fürchterlichen Dilemma steckte.

Die Forschergruppe spricht von einer 85-prozentigen Wahrscheinlichkeit für ihre Version – und hat sofort Widerspruch bei niederländischen Historikern hervorgerufen: Es sei unverantwortlich, van den Bergh aufgrund einer anonymen Nachricht zu bezichtigen. Beweise für diese Anschuldigung sei das Forscherteam schuldig geblieben.

Doch abseits aller Dispute über den Verrat, der vielleicht auch nur ein unglücklicher Zufall war: Warum fasziniert das Leben einer 15-Jährigen bis heute so sehr?

Stolpersteine im Amsterdam

Ein Ortstermin in der niederländischen Hauptstadt hilft weiter: Im Süden von Amsterdam, weit weg von den pittoresken Grachten im Zentrum, sind seit dem Jahr 2015 vier Stolpersteine im Boden eingelassen. Auf einem der Steine vor der Hausnummer 37 am Merwedeplein steht der Name Anne Frank.

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Im ersten Stock hatte Anne mit ihrer Familie gewohnt, nachdem die Familie 1934 gezwungen war, Frankfurt zu verlassen, um den Nationalsozialisten zu entkommen. Die Familie Frank fühlte sich in Amsterdam sicher. 1940 überfiel die Wehrmacht die Niederlande.

Es gibt ein Foto von Anne mit ihren Freundinnen Eva Goldberg und Sanne Ledermann am Merwedeplein: Die drei spielen mit Puppen auf dem Bürgersteig. An diesem wenig auffälligen Ort hat Anne Frank gelebt, bevor sie das später so berühmte Tagebuch verfasste.

Diesem Mädchen – und nicht der Ikone – begegnen Leserinnen und Leser in den Aufzeichnungen. Unter ihnen sind viele Jugendliche, wie Anne es war. Sie lernen einen ganz normalen Teenager kennen, der gezwungen war, in einer extremen Situation zu leben. Anne ist eine überdurchschnittlich wache Schülerin, Pubertierende, Tochter. Zur verfolgten Jüdin machten sie die Nationalsozialisten.

Gleichaltrige entdecken Anne mit ihren alterstypischen Träumen, Alltagsproblemen, Hoffnungen und Wünschen. Die junge Chronistin nahm ihre Mitmenschen und sich selbst genau in den Blick.

Verblüffend abgeklärte Überlegungen

Es finden sich verblüffend abgeklärte Überlegungen einer talentierten Schreiberin. Zum Beispiel dieser: „Ich werde immer unabhängiger von meinen Eltern … ich weiß, was ich will, habe eine eigene Meinung, habe einen Glauben und eine Liebe. Lasst mich ich selbst sein, dann bin ich zufrieden.“

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Blitzgeschwind wechselt Anne zwischen Krieg und Klopapier, Juden und Hitler, Disputen mit ihren Mitbewohnern und Selbstrechtfertigungen. Sie hat viel mehr als nur die „Herzensergüsse eines 13‑jährigen Schulmädchens“ verfasst, wie sie selbst befürchtete.

So ist sie zur Identifikationsfigur für die jugendlichen Leser von heute geworden. Gerade ihre Normalität half dabei. Die historische Bedeutung des Tagebuchs wird womöglich noch zunehmen, wenn die letzten Zeitzeugen gestorben sind, die noch berichten können. Journalistin oder Schriftstellerin hätte Anne Frank werden wollen. Sie überarbeitete das Tagebuch in größeren Teilen noch einmal, weil sie es nach dem Krieg als Buch herausbringen wollte.

Anne Franks Schicksal lässt Parallelen zu Flüchtlingen von heute zu. Bevor die Familie im Hinterhaus untertauchen musste, hatte Otto Frank versucht, Visa für die USA zu ergattern. Er scheiterte auch deshalb, weil die Franks damals staatenlos waren.

Die Nationalsozialisten hatten den im Ausland lebenden Jüdinnen und Juden 1941 die Staatsbürgerschaft entzogen. Mit ähnlichen bürokratischen Zwängen haben auch heutige Vertriebene zu kämpfen – auch dann, wenn sie nicht in eine staatlich organisierte Mordmaschinerie geraten.

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107.000 von insgesamt 140.000 niederländischen Jüdinnen und Juden wurden von den Deutschen verschleppt. Nur 5000 kehrten zurück. Alle anderen wurden ermordet.

Vor sechs Jahren hat der Regisseur Hans Steinbichler das Leben Anne Franks verfilmt. Er stellte dem Publikum eine knutschende 14-Jährige vor, die sich durch ihren strengen Vater keinesfalls davon abhalten lässt, in die Arme des drei Jahre älteren Peter van Pels zu sinken. So war das wohl in einem beengten Hinterhausversteck in Amsterdam, aus dem es kein Entkommen gab.

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