Judith Holofernes: „Der Abschied von den Helden war traurig“
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Beim Schreiben will sie sich besser verstehen: Judith Holofernes.
© Quelle: Marco Sensche
Hannover. Frau Holofernes, mögen Sie Abschiede?
Nein, eher nicht. Aber ich kann damit leben. Ich kenne auch Leute, die sich immer schnell wegducken, bevor sie sich verabschieden müssen. So schlimm ist es bei mir nicht.
Sie haben in den vergangenen Jahren vielfach Abschied genommen: von Ihrer Band Wir sind Helden, vom großen Erfolg, von der Musikindustrie, von Ihnen selbst. Welcher Abschied ist Ihnen am schwersten gefallen?
Man kann auf jeden Fall sagen, dass ich für fast jeden davon lange gebraucht habe. Bis ich mich wirklich von den Helden verabschiedet habe, hat es Jahre gedauert – obwohl es schon länger in mir gegärt hat. Das Gleiche gilt auch für den Abschied von meiner Solokarriere. Oder besser: für den Abschied vom Karriereaspekt meiner Solokarriere und vom Popbusiness. Der hat ja auch noch einmal acht Jahre gedauert. Insofern vollziehe ich meine Abschiede offensichtlich sehr langsam. Aber ich habe sie nicht ungern genommen.
Wirklich? Auch nicht von Wir sind Helden?
Abschied von den Helden zu nehmen war sehr traurig. Doch ich hätte mir damals einen viel klareren Schnitt gewünscht. Ich habe mich damals dazu bereit erklärt, dieses Ende als eine Pause auf unbestimmte Zeit zu formulieren, und diese Uneindeutigkeit ist mir überhaupt nicht gut bekommen. Und jetzt bei meinem endgültigen Abschied vom großen Musikbusiness war es dasselbe.
Warum konnten Sie nicht einfach „Es ist Schluss“ sagen?
Das war schwierig für mich. Ich habe versucht, beim Schreiben meines neuen Buchs herauszufinden, warum das solch eine hohe Hürde für mich bedeutete. Ich habe immer nur kleine Schritte gemacht, nur kleine Sachen verändert, aber den großen Schritt, den ich mir gewünscht habe, bin ich des Öfteren in meinem Leben nicht gegangen.
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Heinz Rudolf Kunze (l) und Judith Holofernes reden bei der Veranstaltung «Sprechstunde im Theaterhaus» über Stress, Stressempfinden und Stressbewältigung.
© Quelle: Sina Schuldt/dpa
Auch heute ist es oft noch so, dass Sie mit Worten vorgestellt werden wie: „Das ist die ehemalige Frontfrau der Band Wir sind Helden.“ Und das, obwohl Sie schon lange auf anderen künstlerischen Wegen unterwegs sind. Kränkt Sie das?
Ehrlich gesagt nicht mehr. Aber auch erst seit Kurzem nicht mehr, genau gesagt, seitdem ich mein neues Buch geschrieben habe. Wobei ich auch schon davor immer wieder das Gefühl hatte, ich müsste doch eigentlich die Größe haben, die anhaltende Verbindung zu den Helden quasi huldvoll entgegenzunehmen. Aber ich war noch nicht so weit, vielleicht auch, weil ich mit diesem Teil meines Lebens noch zu eng verbunden war. Durch das Schreiben wurde die Helden-Zeit dann aber zu wunderschöner Vergangenheit, manchmal auch zu schwieriger Vergangenheit. Aber eindeutig zu etwas Vergangenem.
Wie ist es jetzt?
Wenn ich auf meine Zeit als Sängerin der Helden angesprochen werde, denke ich meistens so etwa wie: „Oh ja, stimmt, das war ich auch mal, aber jetzt bin ich das hier.“ Vor allem aber habe ich durch mein Schreiben nun verstanden, dass man etwas vermissen kann, ohne es wiederhaben zu wollen.
Der Rapper Casper hat vor einigen Monaten getwittert: „Wir sind Helden Reunion Wann?“ Können Sie ihm Hoffnung machen?
Ich schätze, Casper ist einfach eingefallen, dass die Helden eine coole Band waren, und er hat seinen Tweet in einem nostalgischen Anfall geschrieben. Das kann ich gut annehmen und mich über die Wertschätzung freuen. Ich denke nicht, dass ich ihm das Herz breche, wenn ich stattdessen andere schöne Sachen mache.
Nach dem Ende Ihrer Band haben Sie sich eine Auszeit genommen, weil es Ihnen sehr schlecht ging. Nach dieser Krise haben Sie sich gleich wieder in Ihr nächstes Projekt – Ihr erstes Soloalbum – gestürzt und sind erneut in die stressenden Mühlen der Musikbranche geraten. Man liest ja öfter von Menschen, die etwa nach einem Burnout genauso weitermachen wie vorher. Können Sie das erklären?
Bei mir lag die große Schwierigkeit darin, dass ich noch Musik gemacht habe und damals auch noch machen wollte. Dadurch bin ich wieder die gleichen Kreise gelaufen, die mich davor krank gemacht haben. Tatsächlich ist ein Neuanfang viel, viel leichter für Leute, die einen radikalen Schnitt machen. Ich hingegen bin in einen offenstehenden Käfig zurückgelaufen. Beim Schreiben meines Buchs wollte ich endlich herausfinden, warum ich diesen Weg gegangen bin. Natürlich haben auch massive Kräfte von außen gewirkt, aber es waren halt auch starke Kräfte in mir selbst am Werk.
In Ihrem neuen Buch „Die Träume anderer Leute“, von dem Sie eben sprachen, schreiben Sie offen über gesundheitliche und psychische Probleme. Allerdings fehlen Begriffe wie Depression oder Burnout. Warum vermeiden Sie diese Wörter?
Die meide ich eigentlich nicht. Ich finde nur, dass sie oft sehr unpräzise sind. Die Diagnose bei mir wäre wahrscheinlich eine Erschöpfungsdepression, aber ich war damals noch nicht in Therapie. Das alles einzuordnen und zu verarzten, damit bin ich immer noch beschäftigt. Deswegen scheue ich vielleicht auch die Eindeutigkeit von stehenden Begriffen und Diagnosen. Vielleicht wollte ich aber auch durch ein reines Beschreiben den Raum lassen, dass sich beim Lesen möglichst viele Leute wiederfinden können.
Dadurch, dass Sie die Symptome genauer beschreiben, werden die psychischen Probleme tatsächlich sehr anschaulich und viel individueller.
Genau, das denke ich auch. Wenn man etwa nur „Depression“ schreibt, dann ist der generalisierte Angstaspekt nicht unbedingt mit enthalten, den es bei mir definitiv hatte und hat. Durch das Beschreiben dieser Zustände hoffe ich, dass vielleicht jemand, der die gleichen oder ähnliche Symptome hat wie ich, eher zu dem Schluss kommt: Da sollte ich vielleicht mal irgendetwas ändern – und vielleicht sogar etwas radikaler, als es Judith Holofernes getan hat.
Das heißt, Sie wollen mit Ihren Erfahrungen auch anderen Menschen Hilfe und Unterstützung geben?
Das hoffe ich schon, dass Leute sich da wiederfinden und vielleicht dann auch ihre eigenen körperlichen Notrufe ein bisschen ernster nehmen, als ich sie genommen habe. Was ich auch extrem unterschätzt habe, ist, wie schwer es ist, sich von solchen Krisen zu erholen. Ich habe bis heute das Gefühl, dass ich (…) bestimmte Muskeln überreizt habe oder sogar gerissen. Dazu kommt die Erkenntnis, dass man den Muskel nie wieder so belasten kann wie früher. Es gibt immer wieder Momente, in denen ich einsehen muss, dass ich etwas nicht mehr leisten kann – egal, ob das mal ging. Es ist eine Tatsache, mit der ich irgendwie arbeiten muss.
Judith Holofernes ist ja ein Künstlername. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, Ihren Namen zu ändern – passend zu Ihrem klaren Schnitt, Ihre Musikkarriere zu beenden und sich aus der großen Öffentlichkeit zurückzuziehen?
Das war tatsächlich schon einmal vor einigen Jahren ein Thema, als ich meine Soloalben veröffentlicht habe. Da wurde ich das mal gefragt, und ich dachte damals: Ich habe vor der Veröffentlichung der Alben nicht darüber nachgedacht, und jetzt ist es wohl zu spät. Absurderweise ging es mir jetzt mit dem Buch genauso.
Mit welchem Ergebnis?
Auch hier hab ich die Gelegenheit wohl verpasst! Ich denke aber immer mal wieder darüber nach, ob eine Namensänderung denn die einzige Möglichkeit für mich wäre, etwas Grundlegendes zu ändern. Die radikalste Möglichkeit wäre ja mit meinem Leben etwas anzufangen, was überhaupt nicht mehr in der Öffentlichkeit stattfinden muss. Das ist aber für mich so weit weg, dass ich mir das kaum vorstellen kann. Trotzdem gibt es Momente, in denen ich überlege, ob ich mir das nicht gönnen könnte.
Sie haben sich aus dem Hamsterrad der großen Firmen in der Musikindustrie zurückgezogen und lassen sich in Ihrem künstlerischen Schaffen, vor allem im Schreiben, über Patreon unterstützen. Über dieses Unterstützerportal für Künstlerinnen und Kreative kann jeder, der will, Ihnen Geld überweisen und Sie auch durch Interaktion unterstützen. Funktioniert das gut?
Patreon bewährt sich total, das bereitet mir unheimlich Freude. Dadurch habe ich das Gefühl, meinen eigenen Raum zu besitzen, in dem ich nur mit den Leuten abhänge, die sich aktiv mit dem verbinden, was ich künstlerisch umsetze. Und es relativiert auch vieles.
Was zum Beispiel?
Wenn ich etwa wie jetzt ein Buch herausbringe und irgendetwas daran schmerzhaft und schwierig wäre, weiß ich, dass ich diese Leute habe, mit denen ich meine Probleme oder Ängste besprechen kann. Das ist ein vollkommen anderes Gefühl von Rückhalt, als wenn man immer sofort an die ganz große, breite Öffentlichkeit herantreten muss. Das ist sehr schön. Für mich ist darüber hinaus noch eines wichtig zu sagen.
Glücklich, wie das künstlerische Leben jetzt aussieht
Bitte!
Dass ich bei allen Schwierigkeiten der Vergangenheit wirklich glücklich damit bin, wie mein künstlerisches Leben jetzt aussieht. Ich habe mich eine Zeit lang dafür geschämt, dass ich diese radikale Wende nicht früher umgesetzt habe. Aber mittlerweile kann ich gut verstehen, warum es so war. Und ich genieße mein Leben als Künstlerin so, wie es gerade ist, sehr!
Wenn Sie Ihre künstlerische Zukunft eher beim Schreiben sehen: Was kommt dann als nächstes? Auch mal ein Roman? Wieder Gedichte?
Ich wollte ursprünglich eigentlich ein anderes Buch schreiben. Mir wurde dann aber klar, dass ich erst einmal anfangen muss, die vergangenen zehn Jahre zu verstehen. Deshalb gibt es jetzt dieses aktuelle Buch. Aber die andere Idee, von der ich eben sprach, ist viel älter – die trage ich seit 15 Jahren mit mir herum. Im Moment glaube ich, dass es das Nächste ist, woran ich arbeiten werde.
In welche Richtung wird das gehen?
Es wird erneut etwas Memoiristisches sein, einfach weil ich darin meine Stärke sehe. Ich fühle mich sicher im Beobachten und im Aufschreiben meines eigenen Lebens. Das war auch schon beim Songschreiben so.
Haben Sie eine Abneigung gegen das Fiktionale?
Nein, ich liebe auch Fiction. Aber ich fühle mich in dem Bereich im Moment noch nicht berufen. Also werde ich weiter über mich schreiben.
Und was ist mit dem Singen?
Mein Projekt, Songs aus dem Englischen ins Deutsche zu übersetzen und sie dann zu singen, habe ich noch nicht aus den Augen verloren. Ich habe noch viele Ideen in meinem Kopf, und die gehört dazu.
Auf der Suche nach Selbstbestimmung
Die Sängerin und Schriftstellerin Judith Holofernes hat ihre Karriere als prägende Stimme der Deutschpopband Wir sind Helden begonnen. Gemeinsam mit ihren drei Mitmusikern – Jean-Michel Tourette, Mark Tavassol und ihrem heutigen Ehemann Pola Roy – schaffte sie 2002 mit dem Song „Guten Tag (die Reklamation)“ den Durchbruch. Es folgten vier Studioalben, bevor sich die Band vor zehn Jahren auflöste.
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In "Die Träume anderer Leute" gibt Judith Holofernes Einblicke in ihre Ängste, Selbstzweifel, Träume und Hoffnungen.
© Quelle: Kiepenheuer & Witsch/dpa
Für Judith Holofernes, die 1976 als Judith Holfelder-von der Tann zur Welt kam, begann eine Zeit der neuen Wege. Unter anderem nahm die Mutter von zwei Kindern zwei Alben als Solosängerin auf und veröffentlichte Gedichte. Es war aber auch eine Zeit der Selbstzweifel, der körperlichen und psychischen Krisen, die zum Teil bis heute nachhallen.
In ihrem autobiografischen Buch „Die Träume anderer Leute“ (Kiepenheuer & Witsch, 416 Seiten, 24 Euro) nimmt sie die Leserinnen und Leser mit hinter den Vorhang der Popmusikwelt. Sie thematisiert den Spalt zwischen ihren künstlerischen Vorstellungen und den Anforderungen eines auf Gewinn abzielenden Business.
Vor allem erzählt Holofernes ehrlich, offen und nah über sich. Dieses Buch, das wird schnell deutlich, ist eine Selbstvergewisserung der heute 45-Jährigen über das Ende der Helden, über den Wunsch, aus dem goldenen Käfig auszubrechen, und ihre Entscheidung, zwischendurch wieder in ihn zurückzukehren. Zurück bleibt eine Künstlerin, die momentan ihren Weg ganz allein bestimmen kann und will.