Vor 25 Jahren: Ein Barde sieht schwarz

Die lebenden Nachtlichter – Bob Dylans Box „Fragments“ ist eine wahre Schatzkiste

Zeiten ändern sich und werden auch schon mal verrückt: Mit dem Album „Time out of Mind“ meldete sich Bob Dylan (hier ein undatiertes Foto) 1997 mit düsteren Songjuwelen zurück. Mit der Box „Fragments“ erscheint am Freitag ein neuer Remix der Platte samt Archivschätzen aus Sessions und Konzerten jener Tage.

Zeiten ändern sich und werden auch schon mal verrückt: Mit dem Album „Time out of Mind“ meldete sich Bob Dylan (hier ein undatiertes Foto) 1997 mit düsteren Songjuwelen zurück. Mit der Box „Fragments“ erscheint am Freitag ein neuer Remix der Platte samt Archivschätzen aus Sessions und Konzerten jener Tage.

Ganz klar: „Time out of Mind“ brachte Bob Dylan 1997 das Comeback. In den Jahren zuvor hatten nur noch einige wenige Kritiker von seinen Platten geschwärmt – über die Rückkehr zu Nur-Klampfe bei „Good As I Been to You“ (1992) und über den Kassettenrekordercharme von „World Gone Wrong“ (1993) – beides Ansammlungen von zur Akustikgitarre gesungenem Fremdmaterial aus Blues und Folk.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Mit seinem MTV-Unplugged-Album hatte Dylan sich zurückgemeldet

Aber nichts, was einen der Big Three der Popmusik (neben Elvis Presley und den Beatles) einem breiten Publikum empfohlen hätte. Die eigentliche Rückmeldung war jedoch schon zwei Jahre vor „Time out of Mind“ erfolgt. Mit seinem MTV-Unplugged-Album hatte der damals 53-jährige Dylan 1995 die heißeste Livebühne der Neunzigerjahre betreten. Und spielte seine Klassiker dort so geschmeidig, so wohlklingend, dass man Lust auf einen Dylan-Konzertbesuch bekam – statt wie in den Jahren zuvor Angst davor zu haben.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von YouTube, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Für „Time out of Mind“ gab es sogar einen Gesangs-Grammy

Als dann zwei Jahre später „Time out of Mind“ erschien, das jetzt – etwas verspätet zum 25-jährigen Jubiläum – mit der Fünf-CD-Box „Fragments“ geehrt wird, der 17. Folge der „Bootleg Series“ genannten Archivschatzaufarbeitung Dylans, war ihm der Boden für einen Erfolg also schon bereitet. In den USA und Großbritannien erreichte das 30. Studioalbum Dylans, das erste mit eigenem Material seit 1990, Platz zehn der Charts, in Deutschland sogar Platz sechs.

Es regnete Gold- und Platinplatten, drei Grammys gab es obendrein: für das Album des Jahres, für das beste Folkalbum und – für die beste Rockgesangsdarbietung. Ja, Sie haben richtig gelesen, der Rabe Bob erhielt den Sänger-Grammy – für sein Singen bei „Cold Irons Bound“.

Rau sollte es werden – das war der Plan

Und die Kritik überschlug sich, sah den Beginn neuer Frische und Relevanz, das Versprechen eines intensiven Spätwerks. „Bei ,Time out of Mind‘ wollte ich, dass meine Musik durch diesen ganzen technischen Apparat hindurchläuft“, verriet Dylan dem Rockfachblatt „Rolling Stone“ im November 1997 in einem seiner seltenen Interviews, „und so schnell wieder am anderen Ende rauskommt, dass der Apparat gar nicht merkt, was er da eigentlich macht.“ Rau sollte es werden, das war der Plan – ob nun Blues, Rockabilly oder eine Ballade anstand.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Es war ein Album, das im Herbst erschien und das – passend – voller Dunkelheit, Sturm und Regen war. Dylan hatte das meiste nach Anbruch der Nacht geschrieben, einiges in meditativer Stimmung, während vor dem Haus Unwetter vorbeizogen. Entfernten Donner spürt man sogar beim „Hit“ der Platte, „To Make You Feel My Love“, einem Liebeslied, so schön und berührend, wie es Jahrzehnte zuvor „Lay Lady Lay“ oder „I‘ll Be Your Baby Tonight“ gewesen waren.

„To Make You Feel My Love“ – ein später Klassiker von Dylan

Dieses Pianostück war eine Insel der Geborgenheit in wilder Songsee. „Ich könnte dich glücklich machen / deine Träume wahr werden lassen / nichts gibt es, was ich nicht tun würde / sogar bis ans Ende der Welt ginge ich für dich / um dich meine Liebe fühlen zu lassen“, sang da ein in eine noch unentschiedene namenlose Dame verliebter Bob Dylan. Umarmende Zeilen, getragen von einer umarmenden Melodie, gesungen von einer desparaten Stimme.

Billy Joel hat das Lied gecovert, Adele, Bryan Ferry, Pink und Michael Bublé. Und der Schmachtlord Michael Bolton hat’s zusammen mit Helene Fischer gesungen. Insgesamt gibt es mehr als 400 Coverversionen – ein moderner Klassiker. Dylan bereichert die Liste auf „Fragments“ um eine Liveversion und eine alternative Studioaufnahme.

Der neue Remix ist merklich kantiger als das Original

Das restliche Album war geradezu grimmig. Liebe weg, alles weg – schlimme Welt, weinende Wolken: „Der Geist unserer Liebe ist nicht fortgegangen“, klagt der Verlassene in „Standing in the Doorway“ über die Fesseln der Erinnerung. Die Fans, die fanden, dass der kanadische Produzent Daniel Lanois (der U2s Amerika-Alben „The Unforgettable Fire“ und „The Joshua Tree“ produziert hatte) dem Liedgut noch viel zu viel Politur verpasst hatte, müssten Michael Brauers jetzt vorliegenden Remix mögen, der noch kantiger ist – stärker fokussiert auf Dylans Stimme. Es gibt Alternativversionen, zwei Discs voller Konzertaufnahmen und Outtakes wie das wunderschöne „Mississippi“.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Gleich sechs Versionen von „Mississippi“ – tut das not? Durchaus, denn alle sind verschieden und der Song, der ein wenig an „Quinn, the Eskimo“ gemahnt (vor allem Version 1), ist in jeder Variante ein Schatz. Dreimal ist der 17-minüter „Highlands“ enthalten, und „Can‘t Wait, Version 1″ kann man deswegen nicht mitsingen, weil es einen weitgehend anderen, viel persönlicheren Text hat: „My hands are cold, / the end of time has just begun / I‘m gettin‘ old, / anything can happen now to anyone.“ – mit dem Eingeständnis des Altwerdens ist Version 1 eine ganze Ecke schwärzer als der offizielle Track.

Anhand von „Fragments“ wird dem Hörer deutlich, dass ein Lied bei Dylan ein Prozess ist, der nie an ein Ende gelangt. Beständig ist bei ihm nur der Wandel.

„Fragments“ – Erinnerung an ein Album, das man haben muss

Sicher ist „Fragments“ eine Fundgrube zuvörderst für Dylan-Fans. Aber es ist zweifelsohne eines der Juwelen der „Bootleg“-Reihe, ein Fest der lyrischen und musikalischen Überraschungen, und erinnert die Welt an das 25 Jahre alte, zeitlose Album „Time out of Mind“ mit seinen knurrenden Gitarren und seiner simmernden Wurlitzer – eines der Handvoll Dylan-Werke, die jeder mit einem Herz aus Popmusik zwingend im Regal stehen haben muss.

„Ich fühle mich wie ein Gefangener in einer geheimnisvollen Welt“, singt Dylan in „Highlands“, „ich wünschte, jemand käme vorbei und würde für mich die Uhr zurückdrehen.“ Für das Album „Time out of Mind“ ist jetzt genau das passiert. Und gut! Chapeau!

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Das Stream-Team

Die besten Serien- und Filmtipps für Netflix & Co. – jeden Monat neu.

Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.

Der Titel passt in unseren Tagen noch viel besser als anno 1997, wo die Ernüchterung nach Mauerfall und dem Ende des Kalten Krieges noch nicht voll durchgeschlagen hatte und die Zeiten noch nicht völlig verrückt schienen, all den finsteren Metaphern in Dylans vergleichsweise direkten Songs zum Trotz.

Im Ausklang einer Millionen Tote hinterlassenden Pandemie aber, die niemand wirklich in den Griff bekam, in Zeiten eines weltweiten Frühlings für Despoten und der Zeitenwende des von Wladimir Putin entfesselten Ukraine-Kriegs, bei dem das Prinzip Demokratie samt aller Werte des Westens auf dem Spiel steht, möchte man mit Dylan „Not Dark Yet“ anstimmen.

„Ich höre nicht mal mehr das Murmeln eines Gebets“, singt der Rabe Bob mit fahler Stimme. „Es ist noch nicht stockfinster, aber es geht darauf zu.“

Bob Dylan: „Fragments – Time out of Mind Sessions (1996–1997): The Bootleg Series Vol. 17″ (Columbia Records) Deluxe-Version auf fünf CDs oder zehn Vinylplatten (Letzteres über bobdyan.com), Exzerpte auf einer Zwei-CD- oder Vier-Vinyl-Version (erscheint am 27. Januar)

Mehr aus Kultur

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige
Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Outbrain UK Ltd, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Verwandte Themen

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken