Hilfe und Abgrenzung: Warum Selbstfürsorge für Angehörige von Depressiven so wichtig ist
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Depressionen können Menschen verändern – für Angehörige ist das besonders schwierig.
© Quelle: Fabian Sommer/dpa
Wie erklärt man jemandem etwas, das man selbst nicht versteht?
Wie findet man Worte für etwas, das man nicht beschreiben kann?
Wie lebt man mit jemandem zusammen, wenn man nicht einmal mit sich selbst leben kann?
Depressionen. Eine weitestgehend unsichtbare Krankheit. Kein gebrochenes Bein mit Gips, das zum Humpeln zwingt. Kein Schnupfen mit roter Nase. Eine kaputte Seele, eine Krankheit, die Menschen verändern kann, die Lebensweisen und Vorlieben verändern kann. Die ratlos zurücklässt. Fast 10 Prozent der Deutschen erkranken jedes Jahr an Depressionen, im Laufe des Lebens ist statistisch gesehen jede und jeder fünfte Deutsche betroffen, bezieht man andere psychische Krankheiten wie bipolare Störungen oder Suchterkrankungen mit ein, ist es jede und jeder dritte Deutsche.
In der Statistik finden sich aber nur diejenigen, die direkt betroffen sind. Psychische Erkrankungen wie Depressionen wirken sich nicht nur auf die Erkrankten selbst aus. Das gesamte nahe Umfeld wird beeinträchtigt. Vor allem: der Partner oder die Partnerin. In der ersten Studie zur Belastung von Angehörigen von Depressiven gaben 2018 36 Prozent der befragten Depressiven an, dass die Partnerschaft durch die Krankheit besser wurde, dass die Verbundenheit tiefer ist. Doch 50 Prozent sagten, durch die Krankheit Probleme in der Partnerschaft zu haben, 84 Prozent berichten davon, sich von anderen Menschen, auch dem Partner oder der Partnerin zurückgezogen zu haben.
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Depressionen können Paarbeziehungen beenden
Unwissen, Unverständnis, Fehlinterpretationen auf der einen Seite. Rückzug, Gefühllosigkeit und Negativität auf der anderen Seite. Von jenen 50 Prozent mit Problemen in der Partnerschaft gab knapp die Hälfte (45 Prozent) an, dass die Krankheit zur Trennung führte. Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, sagte bei Veröffentlichung der Studie: „Die Depression ist oft die Ursache und nicht die Folge von Partnerschaftskonflikten.“ Heißt: Beziehungen, in denen vorher alles in Ordnung war, können an Depressionen zerbrechen.
Angehörige von Depressiven durchlaufen verschiedene Phasen
Ich arbeite den ganzen Tag und sie, er liegt nur faul rum. Hätte sie, er nicht wenigstens mal saugen können?
Kann er, kann sie sich nicht einfach mal zusammenreißen?
Wäre ich ein besserer Partner, eine bessere Partnerin, ginge es ihr, ginge es ihm dann nicht so schlecht?
Genau wie Erkrankte selbst durchlaufen auch Angehörige verschiedene Phasen - und sie reagieren dabei nicht immer rational. Die meisten wissen wohl, dass es sich um eine Krankheit handelt, doch wie tief verankert ist dieses Wissen als Gefühl? 73 Prozent der Angehörigen sagten bei der Befragung, Schuldgefühle für den erkrankten Partner oder die erkrankte Partnerin zu haben. Sie spüren eine Verantwortung, bei der Genesung zu helfen und fühlen sich gleichzeitig (30 Prozent) schlecht über die Krankheit informiert.
So können Angehörige Depressiven helfen
Angehörige finden sich in einem Status zwischen Abgrenzung zum Selbstschutz und Empathie und Ankerpunkt für den geliebten Lebensgefährten oder die geliebte Lebensgefährtin. Für Angehörige ist es schwierig, sich zu positionieren, um sowohl dem geliebten Erkrankten zu helfen, sich selbst dabei aber nicht zu verlieren. Denn auch das ist bekannt: Wer sich wochen-, monate- oder gar jahrelang um eine psychisch kranke Person kümmert und dabei selbst über Grenzen geht, kann selbst erkranken.
Dabei sind Symptome bei Depressiven vielschichtig. Während einige tage- und wochenlang nicht aufstehen können, nur noch das Negative sehen und selbst Duschen oder Zähneputzen zu einem unüberwindbaren Problem wird, gibt es auch die andere Seite: Menschen, denen man die Krankheit im ersten Moment nicht anmerkt. Jene, die überkompensieren wollen, die sich als extra leistungsfähig, als besonders glücklich geben. „Die ist die eine, die immer lacht. Die immer lacht, die immer lacht, die immer lacht. Oh die immer lacht. Und nur sie weiß, es ist nicht wie es scheint. Oh sie weint, oh sie weint, sie weint. Aber nur, wenn sie alleine ist“, sangen Stereoact und Kerstin Ott bereits 2015. Deshalb sollten Angehörige grundsätzlich genauer hinschauen, wenn sich eine Person im Wesen und in der Art verändert: Nicht nur Schwermut, auch andere Symptome können Zeichen einer Depression sein.
Depressionen als Krankheit akzeptiert
„Ganz wichtig ist für uns die Akzeptanz der Erkrankung als Ziel“, sagte Maria Strauß, Leiterin der Ambulanz für Affektive Störungen am Universitätsklinikum Leipzig, dem Portal „DasGehirn“. Angehörige sollten sich selbst und auch den Erkrankten gegenüber immer wieder verdeutlichen, dass Depressionen eine Krankheit sind – und keiner Schuld an einer solchen Erkrankung trägt. Rein durch das eigene Verhalten können weder Erkrankte noch Angehörige eine Depression beeinflussen. Der Erkrankte ist nicht nur mal schlecht drauf, er oder sie hat eine Krankheit, die sich im Gehirn nachweisen lässt und zu Veränderungen im Gefühlsleben und Verhalten führt.
Informationen helfen zum besseren Verständnis
Auch bei der Heilung spielt die Akzeptanz der Depression als Krankheit eine Rolle. Einer Person mit gebrochenem Fuß würde man nicht raten, einen Marathon zu laufen. Genauso können Depressive gewisse Dinge aufgrund ihrer Krankheit schlicht nicht tun. Wie ein gebrochenes Bein nicht vom Spazierengehen, viel Liebe und frischer Luft allein geheilt werden kann, kann auch eine Depression dadurch nicht geheilt werden. Anders als bei physischen Leiden gibt es zwar durchaus Faktoren, die den Genesungsprozess unterstützen können, etwa frische Luft und Bewegung, aber das können nur ergänzende Punkte zu einer medizinischen Behandlung, die etwa Medikation und Gesprächstherapie umfasst, sein. Angehörige sollten sich auf den gängigen Portalen, etwa auf der Seite der Deutschen Depressionshilfe oder der Deutschen Depressionsliga, über die Krankheit und ihre Auswirkungen informieren.
Professionelle Hilfe statt Hobbytherapeutinnen und -therapeuten
Wer Depressionen als Krankheit akzeptiert, wird auch schnell merken, dass professionelle Hilfe gefragt ist. Angehörige sollten in ihrer Rolle als Angehörige bleiben und nicht versuchen, Therapeutin oder Therapeut zu spielen. Zum einen fehlt vielmals die notwendige Ausbildung, zum anderen die Distanz, die Psychologin und Psychologe zu Patientin und Patient haben. Auf die Idee, dem oder der Lebensgefährten das Bein zu operieren, würden wohl auch die wenigsten kommen.
Telefonate und Therapieplatzsuche übernehmen
Besteht erst einmal der Verdacht, kann der Hausarzt oder die Hausärztin die erste Anlaufstelle sein – und Kontakte vermitteln. Steht die Diagnose, kann eine Gesprächstherapie Erkrankten helfen, sich selbst und die Krankheit besser zu verstehen, die Vergangenheit aufzuarbeiten und Strategien zu entwickeln, mit den Depressionen umzugehen. Doch die Suche nach einem Therapieplatz kann frustrierend und langwierig sein. Hier können Angehörige helfen, indem sie die Telefonate abnehmen oder Telefonnummern von Psychologinnen und Psychologen heraussuchen. Auch bei anderen Terminen wie Arztbesuchen oder Behördengängen, können Angehörige die erkrankte Person entlasten, indem sie die Terminvereinbarung übernehmen.
Kleine Aufgaben im Haushalt geben und Struktur schaffen
Generell gilt aber: Kleine Aufgaben, die die erkrankte Person im Alltag übernimmt, können helfen, nicht im Depressionsstrudel gefangen zu bleiben. Wichtig ist dabei, dass es sich um tatsächlich kleine und alltägliche Aufgaben handelt, die den Erkrankten oder die Erkrankte nicht überfordern, beispielsweise als Tagesziel, frisches Brot zu kaufen oder die Spülmaschine ausräumen. Generell kann Struktur helfen, den Tag nicht nur im Bett oder auf dem Sofa zu verbringen und sich der Krankheit auszuliefern.
Zur Therapie begleiten
Ist ein Therapieplatz gefunden, können auch Angehörige einbezogen werden. Die Therapie dient in erster Linie dem Erkrankten, doch im Laufe einer Therapie passiert etwas mit den Erkrankten. Stimmungswechsel, Emotionen, Flashbacks können möglich sein. Viele Psychotherapeutinnen und -therapeuten bieten an, dass der oder die Lebensgefährtin einmal mit zur Sitzung kommt, um beide Seiten auf einen Stand zu bringen, wo der oder die Erkrankte aktuell steht. So können Missverständnisse ausgeräumt werden und das Vertrauen kann gestärkt werden. Generell sollten Angehörige Rücksicht nehmen, wie viel von der Therapie der oder die Betroffene preisgeben möchte – Nachfragen kann aber Interesse signalisieren. Auch der Psychiatrische / Psychologische Dienst bietet Angehörigengespräche an.
Angehörige von Depressiven: Selbstfürsorge als wichtiges Gut
Doch nicht nur für das Gegenüber sollten Angehörige sorgen, sondern auch für sich selbst.
Ich kann doch jetzt nicht feiern gehen, während er, während sie heulend im Bett liegt?
Ich muss stark sein für ihn, für sie.
Wenn ich ihn, wenn ich sie jetzt alleine lasse, wer weiß, wo das endet...
Auch wenn die Sorge und die Angst groß ist, wenn der oder die Erkrankte vielleicht auch nicht versteht, warum er oder sie kurzzeitig physisch allein gelassen wird, so ist es doch wichtig für Angehörige. Eine volle Aufopferung und Abhängigkeit schadet einer Paarbeziehung, ebenso, wenn Angehörige selbst permanent über ihre Grenzen gehen und dadurch weniger belastbar werden. Wichtig ist allerdings, dass Erkrankte nicht komplett sich selbst überlassen sind. Sie sollten immer einen Ansprechpartner oder eine Ansprechpartnerin haben, etwa Freundinnen und Freunde, die im Notfall angerufen werden können.
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Positive Akzente setzen
Auf einem Konzert tanzen, mit Freundinnen und Freunden Wein trinken, einen Film im Kino schauen. Nur, weil der Partner oder die Partnerin das nicht kann, müssen Angehörige nicht auch verzichten. Ganz im Gegenteil: Es ist wichtig, sich gerade in solch schwierigen Phasen Aktivitäten ohne den kranken Partner oder die kranke Partnerin zu suchen, um Abstand zu gewinnen und für kurze Zeit nicht an Depressionen erinnert zu werden. Sollte der oder die Erkrankte beleidigt sein und einfordern, dass Angehörige zu Hause bleiben, sollte die eigene Situation und der eigene Wunsch offen kommuniziert werden. Es sollte deutlich werden, dass es keine Aktivität ist, um den Partner oder die Partnerin alleine zu lassen, sondern eine Aktivität, um Selbstfürsorge zu betreiben und wieder Kraft zu tanken. „Man muss auch an sich denken“, sagte Strauß. Nur wer das eigene Leben weiterführe, könne selbst gesund und damit Unterstützung bleiben.
Bewusst Auszeiten nehmen
Depressionen können sich über Monate und Jahre hinziehen und sind für alle Beteiligten kraftraubend. Mehrtägige Auszeiten können Angehörigen helfen, selbst psychisch und körperlich gesund zu bleiben. Wichtig ist sich bewusst zu machen, nicht für das Glück anderer verantwortlich zu sein und kein 24-Stunden-Pflegedienst zu sein. Auch erkrankte Personen müssen alleine klarkommen können, beziehungsweise ohne permanent Angehörige um sich zu haben. Es ist erlaubt, auch ein eigenes Leben zu haben und sich Zeit für sich selbst zu nehmen. Auch hier gilt, der oder dem Erkrankten in Gesprächen zu verdeutlichen, dass es keine Abwendung von ihm oder ihr als Person ist, sondern dazu dient, wieder Kraft zu tanken. Angehörige sollten allerdings vorab dafür sorgen, dass ein Hilfenetzwerk installiert ist und der oder die Erkrankte weiß, an wen er oder sie sich wenden kann.
Situationen verlassen, wenn es zu viel wird
Bei Depressionen verändert sich das Gehirn, Verhaltensweisen und Wesenszüge können sich dadurch verändern. Vielleicht wird der depressive Partner oder die depressive Partnerin gereizt, unfair, überemotional. Angehörige können Situationen verlassen, in denen sie sich selbst hilflos fühlen. So haben beide Seiten die Zeit, sich abzuregen und wieder rationaler zu werden. Eindeutige Kommunikation ist hierbei wichtig, dazu gehören Sätze wie: „Ich glaube, wir kommen gerade nicht weiter. Lass uns ein paar Minuten Pause machen und über alles nachdenken, dann setzen wir uns wieder zusammen.“
Hilfsangebote für Angehörige nutzen
Die Sorge um einen geliebten Menschen, die Belastung, im Alltag mehr oder minder alleine gelassen zu werden – psychische Erkrankungen wirken sich auf viele Arten auf Angehörige aus. Inzwischen gibt es vielfältige Hilfsangebote für Angehörige von Depressiven oder Menschen mit anderen psychischen Erkrankungen. Der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen listet auf seiner Seite beispielsweise Selbsthilfegruppen, die sich in vielen Städten gegründet haben, gibt telefonischen Rat, hat Informationsbroschüren veröffentlicht und gibt Tipps zu Rehamaßnahmen und Therapieplätzen für Angehörige. Auch die Telefonseelsorge kümmert sich via Telefon und Chat um Angehörige von psychisch kranken Menschen.
Trennung
Darf man einen kranken Partner oder eine kranke Partnerin verlassen? Im Idealfall läuft das nicht so. Doch wenn eine Person über Monate oder Jahre psychisch krank ist und vielleicht gar Hilfe verweigert, kann eine Trennung der letzte Ausweg sein, um sich selbst zu schützen. Angehörige sollten aber vor diesem radikalen Schritt andere Hilfsangebote zur Entlastung nutzen.
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