Corona und die Psyche: Was macht diese Krise mit uns?
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Die nächsten Lockerungsschritte sind längst beschlossen, überall sind die Menschen wieder mehr draußen – das Gefühl von Isolation jedoch bleibt.
© Quelle: Eduardo Sanz/Europa Press/dpa
Hannover. Die gute Jeans. Das gebügelte Hemd. Lederschuhe. Wenn Uwe Hauck morgens ins Büro geht, achtet er auf gute Kleidung – auch wenn sein Büro, genau genommen, eigentlich nur sein Gästezimmer ist, in das er einen Schreibtisch gestellt hat, und er ohnehin gerade den ganzen Tag niemandem begegnet.
“Das klingt vielleicht merkwürdig”, räumt er ein. Schließlich könnte er auch seinen Arbeitstag genauso gut in Jogginghose und T-Shirt verbringen. Aber für Hauck geht es nicht um die Kleidung an sich, sondern um ihre Bedeutung – die Trennung von Arbeit und Privatem. “Man muss Strukturen bilden”, sagt er, “Tagesstrukturen.” Und die gute Jeans und das Hemd sind der Versuch, diese Tagesstruktur auch gegen diese Pandemie zu verteidigen, und gegen die Unordnung, die sie bewirkt. Für Uwe Hauck ist sie wichtig, vielleicht sogar: überlebenswichtig.
Die zerstörte Ordnung
Wie Millionen andere arbeitet Hauck, 52 Jahre alt, IT-Spezialist aus Schwäbisch Hall, derzeit von zu Hause aus. Für ihn jedoch ist das Homeoffice nicht nur eine vorübergehende Zumutung, sondern eine potenzielle Bedrohung: Hauck leidet unter depressiven Episoden, die jederzeit ausbrechen können, und unter einer Angststörung, gegen die er Medikamente nimmt. Die Corona-Krise hat die Ordnung zerstört, die er seinem Tag gegeben hat, diese äußere Ordnung aus Wegen und Treffen und festen Zeiten, die ihn auch innerlich stützte.
Das Virus mit dem Namen Sars-CoV-2 bedroht besonders Ältere und Menschen mit den viel zitierten Vorerkrankungen, Herzkrankheiten, Asthma, Diabetes, solchen Diagnosen. Sie bilden die Risikogruppe der körperlich Gefährdeten. Doch es gibt noch eine andere. Zu ihr gehören die Labilen, die Ängstlichen, die Depressiven, die psychisch Kranken. Sie bilden die zweite Risikogruppe, die der seelisch Gefährdeten.
Fast die Hälfte empfindet Angst
Macht uns diese Krise krank? Treibt sie uns künftig zuhauf in die Praxen von Psychotherapeuten und Psychiatern? Wie sich diese Pandemie auf die Köpfe auswirken wird, das ist eine der ganz großen Fragen – auf die es aber bislang noch kaum Antworten gibt. Klar ist, dass diese Krise die Deutschen massiv beschäftigt. Im Cosmo-Monitoring der Universität Erfurt, die das Denken und Fühlen der Menschen dieser Tage kontinuierlich beobachtet, sagen aktuell 43 Prozent der Befragten, dass sie “dauernd oder eher häufig” an das Coronavirus dächten. 49 Prozent erklären, dass es ihnen tendenziell Angst einflöße. In einer aktuellen Studie der Medizinischen Hochschule Hannover erklärten knapp 27 Prozent der Befragten, dass sie schlecht oder sehr schlecht mit der Situation umgehen könnten.
Das sind sehr hohe Werte – und tatsächlich bedeutet diese Krise eine massive psychische Belastung. Sie nervt, macht aggressiv, bedroht Arbeitsplätze und Existenzen. Die Ängste, die viele Deutsche derzeit spüren, sind nicht irreal. Das Deutsche Psychotherapeuten Netzwerk warnt in dieser Woche bereits vor einer Welle psychischer Erkrankungen nach der Krise und drohenden Versorgungsengpässen.
Am schwersten trifft es die seelisch Kranken
Auf der anderen Seite sind psychische Belastungen und psychische Erkrankungen unterschiedliche Dinge. Die Krise ist eine Art Risikofaktor – zum alleinigen Auslöser taugt sie eher nicht. Wer dieser Tage mit Psychotherapeutinnen und -therapeuten spricht, hört auch von Patienten, die von der aufgezwungenen Entschleunigung aus zum Beispiel reduzierter Arbeit und mehr Zeit mit Kindern durchaus profitieren. Psychische Widerstandskraft, im Fachbegriff Resilienz, speist sich aus vielen unterschiedlichen Anlagen und Erfahrungen. Generell gilt jetzt: “Wer in seiner Kindheit und Jugend Einsamkeits- und Verlusterfahrungen nur schwer verkraftet hat, wird jetzt auch eher Mühe haben, Isolation und Einsamkeit zu bewältigen”, erklärt Professor Reinhard Lindner, Psychiater und Leiter des Nationalen Suizidpräventionsprogramms.
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Welche Erfahrungen wir in Kindheit und Jugend mit Einsamkeit und Isolation gemacht haben, entscheidet darüber, wie wir diese Krise jetzt bewältigen, erklärt der Psychiater Professor Reinhard Lindner von der Universität Kassel.
© Quelle: Universität Kassel
Dennoch lässt sich aber bereits jetzt sagen, wen diese Krise wohl auch psychisch am schwersten treffen wird: diejenigen, die ihr am wenigsten Stabilität entgegenzusetzen haben, die also schon vorher labil oder psychisch krank waren. Abrechnungsdaten von Therapeuten oder Psychiatern gibt es bislang noch nicht, dazu ist die Krise noch zu kurz. Was es aber gibt, sind Eindrücke und Erfahrungen von Engagierten und Experten, die sich jetzt um die besonders Isolierten unter den Betroffenen kümmern – und diese Eindrücke klingen sämtlich düster.
Da ist zum Beispiel Thomas Rettig, 51 Jahre alt, aus Bernburg in Sachsen-Anhalt, ehemals Gastronom und Unternehmer, bis er selbst unter schweren Depressionen litt. Heute ist er Mitglied im Psychiatrieausschuss des Landes, engagiert sich als Genesungshelfer und moderiert im Bürgerfunk eine Sendung namens “Radio Depressione”. “Die meisten psychisch Kranken haben nicht vor Corona Angst, sondern vor der Isolation”, sagt Rettig. Viele Betroffene blieben nur noch daheim und hätten kaum noch Kontakte: “Die fallen in ein ganz tiefes Loch.” Er jedenfalls, sagt Rettig, fürchte einen starken Anstieg der Suizidrate.
Die Treffen mit der Selbsthilfegruppe fallen weg
Zu den sonst regelmäßigen Kontakten, die jetzt für viele wegfallen, gehören auch die Treffen der Selbsthilfegruppen. Drei solcher Gruppen organisiert der 49-jährige Stefan Loth in Garbsen bei Hannover, zusammen mit seiner Frau veranstaltet er sonst auch Lesungen und Vorträge. Im Moment jedoch ist er vor allem damit beschäftigt, den Kontakt zu jenen zu halten, die sonst alle zwei Wochen zu den Treffen kommen. Gerade erst hat er wieder zwei Frauen angerufen, die seit Tagen ihre Wohnung nicht mehr verlassen haben – aber auch nicht von selbst um Hilfe rufen. “Viele haben einfach nur noch Angst”, sagt Loth, “und bauen eine Mauer, hinter der sie still abwarten.” Was wiederum hinter dieser inneren Mauer geschieht, sei kaum zu kontrollieren. Anfang März gab es die letzten Treffen der Selbsthilfegruppen. “Jetzt”, sagt Loth, “warten wir darauf, dass es bald wieder losgeht.”
Jennifer Peschmann wiederum ist Wissenschaftlerin an der Universität Kassel, Traumatherapeutin und als Sozialarbeiterin Betreuerin für psychisch Kranke in Siegen. Ihre Klienten leiden unter Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen oder starken Ängsten. Einige fühlten sich anfangs durch die leeren Regale oder jetzt durch den Anblick Maskierter in den Straßen an eigene traumatisierende Erfahrungen erinnert, fast alle leiden unter Einsamkeit und dem Wegfall ihrer festen Tagesstruktur, weil Tageskliniken und Werkstätten geschlossen sind und Fachärzte kaum erreichbar sind. Die Videosprechstunden, die viele Psychotherapeuten dank rasch geänderter Richtlinien jetzt anbieten, können viele ihrer Klienten gar nicht nutzen – weil sie mit ihren einfachen Anschlüssen, alten Geräten oder Prepaid-Handys gar nicht die Voraussetzungen hätten.
Mehr psychotische Phasen
Die Folgen: Konzentrationsschwierigkeiten, Aggressionen, ein Rückfall in überwunden geglaubte Drogenprobleme. “Viele haben Schwierigkeiten, in der Isolation mit ihrer inneren Anspannung klarzukommen”, sagt Peschmann. Und: “Wir sehen eindeutig eine Zunahme psychotischer Phasen.”
So droht diese Krise auch in psychischer Hinsicht jene am stärksten zu treffen, die über die knappsten Ressourcen verfügen. So, wie sie soziale Gegensätze vertieft, indem sie die Niedriglöhner und Minijobber am härtesten trifft, so droht sie auch die seelisch Kranken zu den Verlierern dieser Krise zu machen.
Wird sich das am Ende tatsächlich in einem Anstieg der Suizidrate zeigen? Oder doch auch an mehr Menschen, die infolge der Krise psychisch erkranken? Erfahrungen aus früheren schweren Krisen legen dies zumindest nahe. So wies ein Autorenteam um Sando Galea von der Boston University im “Journal of the American Medical Association” vor Kurzem darauf hin, dass zum Beispiel nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York 10 Prozent aller Erwachsenen Symptome einer Depression entwickelten. Und sowohl nach der Spanischen Grippe in den USA als auch nach der Sars-Epidemie in Hongkong brachten sich mehr Menschen um als sonst, wie ein Beitrag britischer Psychiater in “Lancet Psychiatry” beschreibt.
Nötig sind mehr Hilfen
Andererseits seien mehr Suizide auch in einer solchen Krise kein Naturgesetz, wie der Präventionsexperte Lindner betont. Es sei daher “sehr zu befürworten, Menschen mit schweren psychischen Problemen gerade jetzt nicht allein zu lassen und die Bedingungen von Betreuung und Therapie zu erhalten und zu befördern”.
Uwe Hauck jedenfalls, der frühere Depressionspatient aus Schwäbisch Hall, konstatiert erleichtert, dass ihm die Krise bislang gar nicht viel anhaben konnte. Der 52-Jährige hat eine Familie, mit ihr hat er sich gemeinsame Rituale bewahrt, das Essen um sechs zum Beispiel. Außerdem steht er als Autor und Vorstandsmitglied der Deutschen Depressionsliga zumindest virtuell im Kontakt mit anderen.
Letztlich, sagt Hauck, gelinge es ihm so, die Zumutungen durch die Krise gerade einigermaßen abzufedern – aber er weiß auch, dass er damit eher eine Ausnahme ist. Auch deshalb ermutigt er gerade andere, ihm zu schreiben. “Es ist einfach wichtig zu wissen”, sagt Hauck, “dass man mit seinen Gedanken und Ängsten in dieser Zeit nicht allein ist.”