Hilfe gegen Inkontinenz

Per Becken­boden einen Cursor steuern: neue Lösungen für alte Probleme

Fürs Becken­boden­training muss man gar kein Zeit­fenster im Kalender blocken. Man kann die Muskulatur auch einfach überall zwischen­durch aktivieren – ganz unbemerkt.

Fürs Becken­boden­training muss man gar kein Zeit­fenster im Kalender blocken. Man kann die Muskulatur auch einfach überall zwischen­durch aktivieren – ganz unbemerkt.

Oscar­preis­trägerin Kate Winslet berichtet in einer Talkshow, dass sie nach drei Geburten an Inkontinenz leidet. TV-Promi Amira Pocher wirbt für Becken­boden­übungen, Sach­buch-Bestseller­autorin Sheila de Liz postet Videos über den „Sexmuskel“ auf Youtube. Ein Trainings­gerät mit App-gesteuerten Spielen für den Unterleib flutet die Social-Media-Kanäle. Der Becken­boden – das bestätigen auch Gynäkologen – ist nach Jahr­zehnten des verschämten Verschweigens auf dem Weg zum It-Thema.

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Der Beckenboden besteht aus mehreren Muskeln und Binde­gewebe. Er schließt den Bauch­raum nach unten ab und ist wie eine Hänge­matte an den Rändern nach oben gebogen. Vorn ist er am Schambein­knochen, hinten am Steiß­bein und seitlich an den Sitzbein­höckern befestigt. In der Mitte ist bei Frauen eine Öffnung, die sich für eine Geburt weiten kann. Nach oben hält der Becken­boden die Blase, die Gebär­mutter und den Enddarm, nach unten umschließt er die Harn­röhre, die Scheide und den Darm.

Die anatomische Lage des Becken­bodens.

Die anatomische Lage des Becken­bodens.

Wenn die Kraft des Becken­boden­muskels nachlässt, können medizinische Probleme auftreten. Die häufigsten sind Becken­boden­schwäche und Becken­boden­senkung. Eine Folge davon ist, dass Frauen den Urin nicht mehr gut halten können. Dazu kommen negative Auswirkungen auf die Sexualität.

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Hohe Dunkel­ziffer bei Harn­inkontinenz

Harn­inkontinenz ist laut Deutscher Gesellschaft für Gynäkologie und Geburts­hilfe (DGGG) „ein schwer­wiegendes Gesundheits­problem bei Frauen aller Alters­klassen“, wie es in der erst 2022 verabschiedeten Leitlinie zur Behandlung weiblicher Inkontinenz heißt. Wie groß die Zahl der Betroffenen ist, ist unklar. Die Fach­gesellschaft geht davon aus, dass es bei dem heiklen Thema eine hohe Dunkel­ziffer gibt.

Laut DGGG steigt die Zahl der betroffenen Frauen mit zunehmendem Alter. Bei einer Umfrage 2005 sagten 7,8 Prozent der unter 40-Jährigen, aber 27,1 Prozent der über 60-Jährigen, dass sie nicht immer den Urin halten können. Eine deutsch-dänische Studie von 2017 geht davon aus, dass 48,3 Prozent aller Frauen betroffen sind.

Thomas Fink, Leiter des Becken­boden­zentrums im Sana-Klinikum Berlin Lichtenberg, erklärt die häufigsten Formen: Bei einer Belastungs­inkontinenz verliert man unwillkürlich Harn beim Husten, Niesen oder Sport. Bei einer Drang­inkontinenz muss man ganz plötzlich. Passiert beides, heißt das Mischharn­inkontinenz.

Risiko­faktoren sind schweres Heben, Über­gewicht und Rauchen

Häufige Ursache sei die Geburt eines Kindes, erklärt der Urogynäkologe – ein Schnittstellen-Fachgebiet zwischen Gynäkologie und Urologie. „Wie die Geburt läuft, ist entscheidend dafür, wie groß das Risiko ist, später ein Becken­boden­leiden zu entwickeln.“ Problematisch ist etwa, wenn das Kind sehr groß und schwer ist oder wenn eine Zange zum Einsatz kam. Weitere Risiko­faktoren sind schweres Heben, Über­gewicht, Rauchen sowie das Alter bei der ersten Geburt.

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Die Geburts­hilfe habe das Thema lange Zeit nicht so im Fokus gehabt, meint Fink, der Hebammen im Studium über becken­boden­freundliche Geburten fortbildet. Nach der Geburt werde der Becken­boden nur dann näher untersucht, wenn schwere Schäden vermutet werden, zum Beispiel dass er abgerissen ist. Dabei ist jede Geburt eine Belastung: „Bei einer Geburt werden Teile des Becken­bodens um das Dreifache überdehnt. Bis Symptome auftreten, kann es aber Jahre oder sogar Jahr­zehnte dauern“, erklärt Fink.

Wie wichtig es ist, nach einer Geburt den Becken­boden wieder fit zu machen, betont auch die Wiesbadener Gynäkologin Sheila de Liz, die mit ihrem Buch „Unverschämt – Alles über den fabelhaften weiblichen Körper“ (Rowohlt 2019) Themen der Frauen­heilkunde populär­wissenschaftlich aufbereitet und aus der Tabuzone geholt hat. In einem ihrer Youtube-Videos erklärt sie: „Es ist sehr wichtig, die Becken­boden­muskeln zu stärken, weil sie auch beim Sex eine Rolle spielen.“ Frauen, die einen guten Becken­boden hätten, könnten die Vagina besser verengen. Dadurch spürten sich beide Partner mehr: „Die Orgasmen werden viel intensiver bei einer gesunden und starken Becken­boden­muskulatur.“

Auch Männer würden von Becken­boden­training profitieren

Männer haben auch einen Becken­boden, er ist aber anders aufgebaut und daher stabiler. Eine Becken­boden­schwäche bei Männern ist selten, wie Fink berichtet. Manchmal tritt sie nach einer Prostata­operation auf. Viele Männer wüssten gar nicht, dass sie einen Becken­boden haben, könnten ihn nicht bewusst kontrahieren. „Dabei würden auch Männer von Becken­boden­training profitieren, etwa für die Potenz“, sagt Fink.

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Laut Leitlinie ist es bei Becken­boden­schäden Standard, „dass nicht chirurgische Therapien zuerst ausprobiert werden“. In der Regel wird dafür Physio­therapie verschrieben, bei der Frauen gezielte Übungen zur Stärkung des Becken­bodens lernen. Auch Elektro­stimulation gehört zu den möglichen Maßnahmen. Ist der Schaden so schwer, dass operiert werden muss, stehen laut Fink inzwischen mehrere Verfahren zur Wahl. Entweder werde versucht, mit dem Eigen­gewebe den Schaden zu reparieren. Oder, falls das zu schwach ist, könnten Bänder oder Netze eingesetzt werden.

„Die Wissenschaft widmet dem Thema inzwischen mehr Aufmerksamkeit“, sagt Fink. Dazu beigetragen hat seiner Meinung nach, dass Ultraschall­geräte als wichtiges Diagnose­werkzeug immer besser werden und Schäden häufiger diagnostiziert werden können. Unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburts­hilfe (DGGG) wurde vor einigen Jahren eine eigene Arbeits­gemeinschaft für Urogynäkologie und plastische Becken­boden­rekonstruktion (AGUB) gegründet.

Perifit ist ein Trainings­gerät zur Stärkung des Becken­bodens. Das Gerät verbindet sich mit einer App mit Spielen.

Perifit ist ein Trainings­gerät zur Stärkung des Becken­bodens. Das Gerät verbindet sich mit einer App mit Spielen.

Perifit – ein Joystick im Wortsinn

Dass das Thema langsam aus der Schamecke heraus­kommt, zeigt sich auch daran, wie offensiv hippe neue Gadgets in sozialen Medien beworben werden. Perifit zum Beispiel, ein Produkt aus Frankreich, sieht aus wie ein Dildo, ist aber ein medizinisches Gerät, das sich per Bluetooth mit dem Handy koppelt. Per App kann die Nutzerin ihren Becken­boden trainieren, indem sie mit der Unterleibs­muskulatur im wahrsten Wortsinne spielt: Durch Kontraktion und Entspannung steuert sie den Cursor durch das Spielfeld und sammelt Punkte.

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Studien, was das bringt, kann der Hersteller nicht liefern: Man arbeite daran, habe aber noch keine Ergebnisse. Sheila de Liz findet solche Geräte „richtig gut“. Die Idee dahinter – zu lernen, seine eigene Becken­boden­kraft einzuschätzen und auszubauen – sei „klasse“. Allerdings sei das eher geeignet für Frauen, „die bereits mit ihrem Becken­boden gut vertraut sind“. Wer schwer­wiegende Becken­boden­probleme habe, benötigte professionelle Unterstützung.

RND/dpa

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