Rosemaries Babys: Diese Wolfsburgerin baut lebensechte Puppen

Muriels Köpfchen ist gerade einmal faustgroß und mit zarten Härchen bedeckt. Unter ihrer Haut sieht man feine Äderchen durchschimmern, ihre blauen Augen sind von dichten Wimpern umrandet. Auf der Stirn trägt sie einen „Storchenbiss“, wie er bei vielen Neugeborenen zu sehen ist. Doch Muriel ist kein Neugeborenes, sondern eine Puppe, genauer gesagt ein „Reborn Baby“. Die Wolfsburgerin Rosemarie Rabsch gestaltet diese hyperrealistischen Puppen in beeindruckender Kleinstarbeit, bevor sie sie für Hunderte Euro verkauft – hauptsächlich an Erwachsene. Die Bausätze, die die 61-Jährige dafür benutzt, bestehen zunächst nur aus Kopf und Gliedmaßen. Diese Teile färbt sie anschließen von Hand in vielen Schichten, bis die Vinyl-Oberfläche kaum noch von echter Haut zu unterscheiden ist – samt Rötungen, Adern und Pickelchen. Die Haare werden entweder fein aufgezeichnet oder „gerootet“, also mit einer Nadel einzeln durch den Puppenkopf gepiekst und von innen mit Kleber fixiert. Danach bekommt das Reborn Baby noch Augen, Füllung und – in Rabschs Fall – selbstgenähte Outfits. Eine Puppe kostet 350 bis 380 Euro: Angefangen hat alles, als Rabsch im Internet nach einer Puppe für ihre Mutter suchte. Dabei stieß sie auf einen Reborn-Kursus, zu dem sie sich prompt anmeldete. 2004 entstand so Rabschs erste selbst gestaltete Baby-Puppe. Heutzutage kosten die Künstlerpuppen der Wolfsburgerin 350 bis 380 Euro. Auch interessant: Spielzeug, das mithört: Wie sicher sind Smart Toys? Eine ihrer Kundinnen ist Renate Wirsig. Die Rentnerin hat inzwischen 40 Puppen in ihrer Wohnung drapiert. „Man sieht diese Reborns, die so schön sind und so echt ... und dann kauft man wieder eines“, erklärt sie und muss selbst ein bisschen lachen. Wenn sie eines der „Babys“ zum Vorzeigen auf den Arm nimmt, hält sie es tatsächlich vorsichtig und zärtlich wie einen Säugling. Ansonsten aber sitzen die Puppen still in ihren Stubenwagen oder auf dem Sofa und dienen als Deko und Kunstobjekt. Der Begriff „Reborn Baby“ ist nicht geschützt, bezeichnet aber in der Regel lebensechte Babypuppen, die meist aus Vinyl gefertigt sind. Puppenbauer bestellen sich Bausätze aus Kopf und Gliedmaßen, färben diese aufwendig, versehen sie mit Haaren und Augen und setzen sie mit einem Corpus zusammen. „Reborn“ also „wiedergeboren“ heißen die Puppen nicht etwa, weil sie reale (verstorbene) Kinder darstellen sollen, sondern weil es Ende der Neunziger ursprünglich darum ging, Fertigpuppen von Hand nachzubessern und ihnen so ein neues Leben einzuhauchen. Details über das Rebornen verrät Rosemarie Rabsch auf ihrer Website www.rosis-babys.de. Wenn die Grenzen verschwimmen: Das will auch Puppenmacherin Rosemarie Rabsch klarstellen: „Es sind Sammler- und Künstlerpuppen, keine Spielpuppen.“ Doch die Grenzen sind fließend. Renate Wirsigs Schwester besitzt auch einige der Babypuppen, fährt sie aber tatsächlich im Kinderwagen spazieren und trifft sich mit anderen Reborn-Fans und deren „Babys“, um gemeinsam loszuziehen. Und einmal hat Wirsig eine ihrer Puppen weiterverkauft an eine 15-Jährige, die damit einen außergewöhnlich starken Mutter- oder Spieltrieb auslebte. „Sie hatte ein extra Zimmer für die Puppen eingerichtet und hat sie häufig umgekleidet“, erinnert sich Wirsig. „Aber sie hat auch gesagt: ,Meine Freundinnen dürfen dieses Zimmer nie betreten’.“ „Das verletzt einen dann schon“: Das ist nicht weiter erstaunlich, denn die Reborn-Fans müssen sich häufig mit starken Vorurteilen auseinandersetzen. Die Puppen wirken auf viele Menschen unheimlich, gerade weil sie so realistisch sind. Wer sie sammelt oder gar mit ihnen spielt, wird schnell als verrückt abgestempelt. Puppenbauerin Rabsch kennt solche Reaktionen selbst von Spielzeugmessen, auf denen sie ausgestellt hat: „Die Leute sind oft erstmal erschrocken. Das ist in Ordnung, weil man auch darüber häufig ins Gespräch kommen kann. Aber manche gehen einfach vorbei und geben abfällige Kommentare ab wie: ,Da kann ich gar nicht hingucken, die sehen ja aus wie tote Babys!’ Das verletzt einen dann schon.“ Galerie: So entstehen die Baby-Puppen: Andererseits gebe es immer mal wieder ausgerechnet Männer, die sich für ihre ausgefeilte Technik begeistern können. „Manche bauen Modell-Landschaften für Eisenbahnen oder Modellautos – die wissen meine Arbeit richtig zu schätzen“, so Rabsch. Zwei der Puppen sind im Altenheim „im Dienst“: Zwei ihrer Kreationen erfüllen außerdem einen sehr sozialen Zweck: Sie helfen einer Ergotherapeutin im Elisabeth-Heim, Zugang zu dementen und verschlossenen Patienten zu finden. Doch hat die Puppenkünstlerin keine Angst, ihre Schöpfungen könnten auch in den falschen Händen landen, etwa in denen eines Pädophilen, der sich erst recht über die realistische Gestaltung freut? „Von solchen Fällen habe ich bisher noch nichts gehört“, sagt sie. „Aber man weiß ja nie ...“ „Silicone Babys“ sind sogar noch realistischer: Mittlerweile gibt es schon eine neue Generation realistischer Babypuppen: Die „Silicone Babys“ haben keinen Stoffkörper mehr, sondern bestehen durch und durch aus Silikon – manche sind sogar mit Nabelschnur zu bekommen. „Bei ihnen fühlt sich die Oberfläche sogar so weich und zart an wie bei echten Babys“, sagt Rabsch. „Als ich mal eine davon hochgenommen habe, ist mir ein Schauer über den Rücken gelaufen. Jetzt verstehe ich auch die Menschen, die Reborn Babys unheimlich finden.“ Lesen Sie auch: „Die Puppen und ich – das war Liebe auf den ersten Blick“ Mehr anzeigen Interview mit der psychologischen Psychotherapeutin Tonja Bockelmann: Tonja Bockelmann, psychologische Psychotherapeutin aus Wolfsburg, erklärt, warum das Sammeln so befriedigend ist und wieso es auch Erwachsenen guttun kann, mit Puppen zu spielen. WAZ: Ob Briefmarken, Modellautos oder Panini-Bilder – warum sammeln viele Menschen so gerne? Tonja Bockelmann: Das Sammeln gehört zu den Trieben, wir sind Jäger und Sammler. Die Aufbewahrung des Gesammelten ist ebenfalls ein Trieb. Dabei geht es ums Bewachen, Schützen und Bewahren, das sind Impulse die als selbstwertstärkend und beruhigend erlebt werden. Man baut sich seine eigene sichere, kostbare Welt auf – das wirkt befriedigend. Ist es ein Unterschied, ob jemand Modellautos baut und sammelt oder eben Babys? Beim Umgang mit Puppen geht es vielen auch ums Spielen, das ist die angeborene Lern- und Entspannungsmethode der Natur, durch Spiel erfahren und entwickeln Mensch und Tier ihre Fähigkeiten, ihre sozialen Rollen, klären Fragen und Wünsche und überwinden Konflikte. Aus psychologischer Sicht ist die Herstellung von Puppen seit der Prähistorie belegt, die Menschheit drückt seither ihre starke emotionale und spirituelle Verbindung zu Menschen, Tieren und Natur auch über Kunst und Rituale um Kunstobjekte aus. Lebensechte Künstlerpuppen rufen die Eigenschaften der Gutherzigkeit, Lebensfreude, Gewaltlosigkeit und Verspieltheit in Erinnerung, Eigenschaften die auch Erwachsene als beruhigend und stimmungsaufhellend empfinden und sogar oft mit dem Sinn des Lebens verbinden. Viele der Puppenbesitzer und -sammler berichten von Vorurteilen ihrem Hobby gegenüber. Woher könnte diese Ablehnung kommen? Ich denke, dass womöglich viele Menschen eine Abneigung gegen die Starre und Kühle des Materials und die fehlende Mimik entwickeln, weil sie dies an den Tod erinnert. Nicht die Puppe, sondern die mit ihr spielenden Menschen wirken dann realitätsfern und damit tendenziell unheimlich auf andere, weil sie sich mit etwas Totem so beschäftigen, als wäre es lebendig. Nur wer sich auf seine Fantasie tief einlässt, kann eine Puppe so „beleben“ oder nachempfinden, wenn ein anderer dies tut. Es gibt tatsächlich unter den Reborn-Kunden auch manche, die sich in Rollenspiele vertiefen, für ihre Puppen Kinderzimmer einrichten oder sie im Kinderwagen durch die Gegend schieben. Ist das dann eine Flucht nach innen oder immer noch ein wohltuendes Hobby? Wenn durch ein Rollenspiel kein Leidensdruck, keine Gesundheitsgefahr oder einer andere Form der Selbst- oder Fremdverletzung entsteht, man keinen Raubbau an der persönlichen Kraft oder den finanziellen Mitteln betreibt, sich nicht selbst isoliert oder eine Besessenheit vom Spiel entwickelt, also alles stressfrei bleibt, ist es einfach ein Spiel. Manchmal wählen Reborn-Kunden Puppen, die einem realen, aber verstorbenen Kind ähneln. Können diese Puppen helfen, einen Verlust zu überwinden? Die Puppen haben in solchen Fällen für diese Menschen eine ähnliche Bedeutung wie ein Grab oder ein Gedenk-Altar im Haus und dienen der Kommunikation mit diesem Menschen über den Tod hinaus. Die Pflege eines Andenkens, auch einer Puppe, führt zeitweise über die anstrengende Trauer hinaus ins friedlichere Jetzt. So kann sie Kraft spenden und trösten. Von Frederike Müller

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