Vor 75 Jahren in Peine: „Wir waren frei, die Straße gehörte uns“

Der junge US-Soldat hatte nach einigem Zögern („Maybe you poison me?“) gerade ein paar Gläser von Oma Johannas Schnaps in der Küche geleert, da klopft es plötzlich. Der 13-jährige Hans-Otto kann durch die Tür zwei amerikanische Offiziere erkennen, rennt geistesgegenwärtig zurück und signalisiert dem beschwipsten Soldaten, dass er schnell durch die Hintertür verschwinden müsse. Denn Kontakt zwischen den Besatzern und der Zivilbevölkerung ist im Sommer 1945 in Peine streng verboten. Noch heute erinnert sich Dr. Hans-Otto Scheiblich (88) genau an diese Situation und weiß: „Das hätte ganz schön schief gehen können.“ Zumal: Als sich der Soldat vor seinen Vorgesetzten davonmachte, vergaß er in der Eile sein Gewehr in der Küche. Hans-Ottos Vater Otto rannte wie ein geölter Blitz hinterher, übergab die Flinte und ersparte dem jungen Amerikaner damit wohl eine Menge Ärger. Nicht auszumalen, wenn die Offiziere die Waffe Augenblicke später in der Küche entdeckt hätten. Und so konnten Hans-Otto und der amerikanische Soldat, die sich in den ersten Wochen nach Kriegsende auf der Straße angefreundet hatten, weiter „Geschäfte machen“. Wein und frische Eier gegen Schokolade und Zigaretten: Der 13-Jährige lieferte Wein und frische Eier vom Hof seiner Familie an der Neustadtmühle (heute Seniorenheim Fuhseblick), die er heimlich abgezwackt hatte. Im Gegenzug bekam er Schokolade und „richtige“ Zigaretten. Kippenstummel waren die Grundlage für Hans-Ottos kleinen Wirtschaftskreislauf: „Die Amis zogen ja nur ein paar Mal dran und warfen die halbe Zigarette weg, ich sammelte sie auf, schnitt die verkohlte Seite und den Filter ab, pulte den Tabak raus, gab ihn Bekannten, und von denen bekam ich dann den Wein.“ Das Verhältnis zu den Amerikanern, die bis Juli blieben und dann von den Briten abgelöst wurden, war entgegen den Auflagen freundschaftlich. Und das, obwohl Hans-Ottos Familie wie viele andere ihr Haus am Sackpfeifenberg 14 Tage nach Kriegsende verlassen mussten, weil dort US-Soldaten einquartiert wurden. „Wir mussten Hals über Kopf raus, hatten nur eine halbe Stunde Zeit, um alles einzupacken.“ Viel war es nicht. Hans-Otto raffte Schulsachen und Kleidung zusammen. Der gesamte Wohnblock zwischen Sackpfeifenberg und Mittelstraße wurde mit Stacheldraht eingezäunt. „Allerdings eher durchlässig“, weiß der heute 88-Jährige noch genau. Er kannte die Schlupflöcher und sammelte auch im Militärbereich heimlich Zigarettenstummel ein. Kartoffelacker anstatt Blumenbeete: Der 13-Jährige und seine Familie hatten glücklicherweise eine adäquate Ausweichmöglichkeit: „Die Neustadtmühle war der Betrieb meiner Großeltern – und wir konnten mitsamt der Verwandtschaft meines Vaters, die ein paar Tage vor dem Zusammenbruch aus Schlesien gekommen war, dorthin.“ Er half in der Mühle und im Garten: Wo zuvor Blumen gewachsen waren, wurden jetzt nach dem Krieg Kartoffeln gepflanzt. Was sich fest in Hans-Ottos Gedächtnis eingebrannt hat, hatte sich allerdings bereits Wochen zuvor zugetragen – nach der kampflosen Übergabe Peines an die Alliierten: „Über den damaligen Zuckerweg zwischen Ilseder Straße und Braunschweiger Straße schlängelte sich ein endloser Strom von Militärfahrzeugen – Panzer, Lastwagen, Jeeps. Das werde ich nie vergessen. Unvorstellbar. Ich fragte mich wo die alle herkommen.“ „Guck mal, da kommen die Amis!“: Etwa zeitgleich beobachtete die damals 19-jährige „Didi“ am Fenster der Wohnung im Obergeschoss der Buchhandlung Will die auf dem Marktplatz eintreffenden Soldaten. „Ich sagte zu meiner Freundin: Guck mal, da kommen die Amis! Das war schon ein beeindruckendes Bild, aber Angst hatten wir nicht“, erzählt die heute 94-jährige Edith Helbsing. Im Gegenteil: Die jungen Amerikaner gerierten sich sympathisch. „Doch uns jungen Frauen sagte man ja immer wieder: Haltet euch lieber fern.“ Edith, die aus der Unternehmerfamilie Raky in Bukarest stammt und ein Jahr zuvor als „Reichsdeutsche“ zum Arbeitsdienst eingezogen worden war, gefiel das Leben in der Fuhsestadt nicht: „Als junge Frauen genossen wir natürlich unsere Freiheit. Uns ging es materiell nicht schlecht, aber mit Peine kam ich anfangs überhaupt nicht zurecht. Ich musste immerzu an meine Familie denken, die aus weltgewandten Künstlern und Schauspielern bestand, und vermisste sie sehr.“ Edith sitzt in Peine fest: Ediths Großvater war Anton Raky. Er gilt als erfolgreicher Pionier und genialer Erfinder auf dem Gebiet der Tiefbohrtechnik. Seine Bohrtürme standen in ganz Europa, Afrika, Mittel- und Südamerika. Raky förderte Wasser, Erdöl, Steinkohle, Braunkohle, Kali und Erz. Unter anderem gründete er in Salzgitter eine Maschinenbaufirma, die noch heute besteht: die Salzgitter Maschinenbau AG (SMAG). Nach dem Krieg saß Edith bei ihrer Freundin in der Buchhandlung Will in Peine fest. „Als ich zurückwollte, hieß es, in Rumänien sind die Russen einmarschiert, und Deutsche können nicht zurückkommen.“ Ihre Mutter konnte sie elf Jahre lang nicht sehen, Verwandte in Hannover waren ausgebombt worden. Edith bekam unmittelbar nach Kriegsende schließlich eine Anstellung beim Peiner Landratsamt: „Ich war unter anderem dafür zuständig, Genehmigungen zum Übertreten der Elbe auszustellen.“ Einige Monate später lernte sie über Bekannte den Direktor der Erdölfirma in Berkhöpen kennen, und der bot ihr einen Job als Sekretärin an. „Dafür gab es 20 Mark mehr im Monat – und ich hatte wieder mit Erdöl zu tun, wie mein Opa.“ Sie wohnte weiter bei ihrer Freundin im Obergeschoss im Buchladen – und konnte ein relativ unbeschwertes Leben führen, von den Ausgangssperren mal abgesehen. Später lernte sie den Peiner Geschäftsmann Fritz Helbsing kennen, den sie 1948 heiratete. Hans-Otto Scheiblich kennt sie seit einem gemeinsamen Urlaub an der See 1960. „Die Straße gehörte uns“: Ähnlich wie Edith Helbsing hat auch Christa Feist, die Monate nach Kriegsende in Peine entspannt erlebt. Sie war damals erst acht Jahre alt: „Die Straße gehörte uns. Wir spielten den ganzen Sommer draußen: Schangeln – eine Kugel in ein Loch bugsieren – oder mit dem Ball. Den hatten wir von einer Tante aus Amerika geschenkt bekommen. Es gab ja praktisch keine Autos und so hatten wir eine Menge Spielraum“. Und das direkt in der Innenstadt. Ihr Elternhaus an der Echternstraße, in dem sie heute wieder lebt, zusammen mit ihrem Mann Paul, war damals jedem Peiner bekannt: Es gehörte dem Böttchermeister Hermann Himstedt – eine entsprechende Inschrift auf einem Holzbalken des Gebäudes existiert noch heute. Entspannt war die Sommerzeit für das junge Mädchen vor allem auch deshalb, weil die ständigen Fliegeralarme ein Ende hatten. „Von Januar bis Mai mussten wir täglich in den Keller. Meine Großmutter, meine Mutter und ich, meine Tante und mein Cousin sowie vier Nachbarn. Mein Großvater kam nicht mit, weil er die Treppen nicht mehr gehen konnte.“ Ein Großangriff auf Peine blieb jedoch aus, die Bomber der Alliierten überflogen die Fuhsestadt bloß beim Anflug auf Berlin. Röcke aus Naziflaggen: In Peine herrschte zwar keine Not, doch vieles wie Bekleidung wurde knapp. Und so kam es, dass viele Mädchen 1945 auf einmal rote Röcke, weiße Blusen und schwarzes Mieder trugen – selbst geschneidert aus Naziflaggen. „Das war allemal besser als der Pullover oder die Socken, die meine Mutter aus aufgeribbelten Zuckersäcken genäht hatte. Die kratzten fürchterlich“, schildert Christa Feist. Das ungeliebte Material stammte von einem im Hafen am Mittellandkanal ankernden Zuckerschiff, das geplündert worden war. Der kleinen Christa wurde daraus auch noch eine Trachtenjacke geschneidert. „Weil es keine Knöpfe gab, dienten Hülsen von Eicheln, die mit heißer Nadel durchstochen und festgenäht wurden, als Ersatz.“ Schuhe wurden in der Bekanntschaft durchgetauscht. „Oder sie wurden aufgeschnitten, wenn sie nicht mehr passten, so dass die Zehen vorne raus schauten“, erinnert sich Paul Feist, der damals zehn Jahre alt war. Not macht eben erfinderisch. Und Einfallsreichtum war in allen Bereichen gefragt: Seife gab es nicht mehr, deshalb wurde sie selbst hergestellt: „Meine Mutter bekam einmal von Schlachter Schmidt 20 Kilo Därme und Schlachtabfälle. Das Ganze wurde zusammen mit Alaun, also Seifenstein, gekocht und dann in Form gegossen“, erzählt Christa Feist. Am Ende schnitt man den erkalteten und ausgehärteten Seifenblock in Scheiben – und teilte diese auf. Samstags gab’s frische Unterwäsche: Gefragt war die Seife vor allem samstags, denn dann war Waschtag. „Einmal in der Woche wurden wir in die Wanne gesteckt“, weiß sie noch genau. Die Wanne war natürlich Marke Eigenbau vom Großvater, dem Böttchermeister Himstedt, der Fässer herstellte. „Nach dem Baden bekamen wir auch frische Bekleidung und Unterwäsche, öfter wurde nicht gewechselt.“ Die meisten Kinder waren viel unterwegs und versorgten sich zum Teil auch selbst mit Essbarem. „Ich kannte in ganz Peine die Stellen, wo Pfirsich-, Maulbeer- oder Nussbäume standen“, erinnert sich Paul Feist. Ein Nussbaum stand auch im Nachbargarten, bei der Familie Tostmann: „Da saßen wir an einem warmen Sommerabend mit vielen befreundeten Kindern im Kreis darunter und sangen im Kanon ,Oh, wie wohl ist mir am Abend’. Dabei pulten wir zusammen Erbsen aus und schnippelten Bohnen. Ein wunderschöner Moment“, beschreibt seine Frau Christa Feist. Strom- und Ausgangssperren gehörten zum Alltag: „Ich fand meine Kindheit schön, man half sich viel mehr als heute, und wir waren frei und konnten herumlaufen“, sagt die Peinerin. Dass es Ausgehverbote gab, und abends ab 20 Uhr der Strom ausgeschaltet wurde, macht die Erinnerung bei Paul Feist sogar noch lebendiger: „Ich weiß noch eine Situation, da ging gerade das Licht aus. Da nahm meine Mutter eine Kerze und in die andere Hand die Gebrüder-Grimm-Märchen und las uns Kindern Rotkäppchen vor.“ Begeisterung für die US-Soldaten empfand auch Christa Feist. Sie spielte oft auf dem benachbarten Marktplatz, wo im „Deutschen Haus“ das Offiziers-Casino der Amerikaner eingerichtet worden war. „Einer der Soldaten schenkte mir öfter Schokolade, ein anderer weißes Toastbrot oder Kaugummis. Have you chewing gum or chocolate? – das war damals der erste Satz, den die meisten Kinder aus Peine auf englisch sagen konnten.“ Kleidung aus Sackleinen, Obst aus Nachbars Garten und das erste Kaugummi: Die Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren eine besondere Zeit. Aber auch eine Zeit, über die es kaum Aufzeichnungen gibt, von Fotos ganz zu schweigen. Darum wollen wir die Erinnerungen, die die Menschen im Peiner Land an den Sommer nach dem Krieg noch haben, sammeln und bitten Sie, unsere Leserinnen und Leser, um Beiträge. Haben Sie die Zeit nach April 1945 als Kind oder gar Jugendlicher miterlebt und erinnern sich an die Lebensumstände, den Alltag, besondere Ereignisse? Haben Sie möglicherweise sogar Fotos aus jenen Tagen, die zeigen, wie es sich damals in Peine oder einer der Kreisgemeinden lebte? Dann schreiben Sie uns eine E-Mail mit dem Betreff „Sommer nach dem Krieg“ an redaktion@paz-online.de. Schildern Sie uns Ihre Geschichte, und wenn Sie Fotos haben, scannen Sie sie bitte ein oder fotografieren sie digital ab – wir bitten Sie herzlich, uns keine Originale per Post zu schicken, da wir nicht die Verantwortung für so wichtige persönliche Schätze übernehmen wollen. Aus Ihren Erlebnissen werden wir weitere Beiträge für die gedruckte PAZ und für unser Digitalangebot unter paz-online.de anfertigen. Und damit das Bild der Monate vor 75 Jahren weiter abrunden – damit auch diejenigen vom Sommer nach dem Krieg erfahren, die diese Zeit voller Entbehrungen, aber auch voll lange vermisster Freiheit nicht selbst miterlebt haben. Lesen Sie auch: 44 Tote bei Angriff aufs Peiner Walzwerk Peine wird kampflos an US-Truppen übergeben Vor 75 Jahren entging Peine einer Katastrophe Von Michael Lieb

Sommer 1945 - Vor 75 Jahren in Peine: „Wir waren frei, die Straße gehörte uns“