Niedersachsens Oberbürgermeister kritisieren Fixierung auf Inzidenzwerte

Ist das Einkaufen unter strengen Hygieneregeln erlaubt? Oder doch nicht? Vielerorts in Hannover waren Kunden verunsichert, und selbst Behörden blickten nicht über all klar durch. Im Raum Hannover hatten zum einen die Möbelhäuser Staude und Hesse ihre Türen für Kunden geöffnet, die sich nach Angaben der Häuser zuvor telefonisch anmelden mussten. Zum anderen öffnete C&A in Hannovers City fürs Terminshopping. Ladenöffnungen aber sind der gemäß der Corona-Verordnung des Landes nur erlaubt, wenn der Sieben-Tage-Inzidenzwert bei unter 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche liegt. Das war in der Region Hannover am Montag nicht der Fall. Das Land wies am Montagvormittag für die Region einen Wert von 103,8 aus. Die Geschäfte beriefen sich darauf, dass das Robert-Koch-Institut für die Region einen Wert knapp unter 100 angegeben habe. Nach Einschreiten der Polizei schloss C&A seine Pforten wieder. Die Möbelhäuser blieben geöffnet. Das Anschauen der Ware sei grundsätzlich möglich, heiß es seitens der Polizei. „Inzidenzwerte schaffen keine nachvollziehbare Orientierung“: Der Niedersächsische Städtetag, der die großen Städte im Land vertritt, hat massive Kritik an der neuesten Corona-Verordnung geübt. „Inzidenzwerte sind nicht geeignet, einen verlässlichen und nachvollziehbaren Orientierungsrahmen für die Bevölkerung zu schaffen“, erklärten der Oberbürgermeister der Hansestadt Lüneburg, Ulrich Mädge (SPD), sowie seine Kollegen Frank Klingebiel (CDU, Stadt Salzgitter) und Klaus Mohrs (SPD, Stadt Wolfsburg) übereinstimmend „Der Niedersächsische Städtetag fordert daher, sich von diesen Zahlen zu verabschieden. Die Zahlen 35, 50 oder 100 sind politisch willkürlich gegriffene Zahlen; diese Werte werden von der Bevölkerung schon längst nicht mehr akzeptiert.“ Auch Hannovers Regionspräsident Hauke Jagau (SPD) äußerte Zweifel am Umgang mit den Inzidenzwerten. Von einer „extremen Verunsicherung“ sprach Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne). Diese Verunsicherung gebe es bei Eltern, die ihre Kinder in die Kita schicken wollten, bei Unternehmen, die nicht wissen, was sie tun sollten – eigentlich bei allen“, sagte Onay der HAZ. „Wir brauchen eine klare Kommunikation, da reicht es nicht, sich auf die Inzidenzwerte zu beziehen“, ergänzte er. Die letzte Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin vor einer Woche habe Erwartungen geweckt auf Lockerungen, die sich mancherorts nicht erfüllen ließen, meinte der hannoversche Oberbürgermeister: „Leider auch bei uns nicht.“ Wie sollen Kita-Eltern entscheiden, wenn der Wert schwankt? „Öffnungen oder Verschärfungen auf der Grundlage von Inzidenzwerten schaffen keine Perspektive, sondern Widersprüche und fehlende Planungssicherheit“, erklärte Ulrich Mädge, der aktuell der Präsident des Niedersächsischen Städtetags ist. Der Lüneburger Oberbürgermeister wies darauf hin, dass der jeweilige Wert für den Tag vom Landesgesundheitsamt täglich erst um 10.30 Uhr festgelegt werde. Damit könne man nicht planen. Zudem unterlägen die Inzidenzwerte am Wochenende stets erheblichen Schwankungen. Städtetagsvizepräsident Klingebiel sagte, dass die Planung basierend auf Inzidenzwerten viel zu bruchstückhaft sei. „Kontaktlockerungen, die Betreuung von Kindern in Kindertageseinrichtungen und die Öffnung von Einzelhandelsgeschäften können sich auf der Grundlage von Inzidenzwerten sehr kurzfristig ändern. Aber im Bereich der Kitas werden derart kurzfristige Auswirkungen kommunale Träger, Einrichtungen und Eltern, aber auch Arbeitgeber, vor kaum zu bewältigende Herausforderungen stellen.“ Dies gelte insbesondere dann, wenn die 100er-Grenze überschritten werde. Wolfsburgs OB: „Inzidenz-Irrsinn am Beispiel der Kitas“: Wolfsburgs Oberbürgermeister Klaus Mohrs befürchtet erhebliche Vollzugs- und Akzeptanzprobleme in Niedersachsen: „Der ganze Inzidenz-Irrsinn wird am Beispiel der Kindertagesstätten besonders deutlich. Was am Montag gilt, kann Donnerstag schon wieder Makulatur sein.“ Kitas dürfen laut Corona-Verordnug des Landes erst dann öffnen, wenn der Inzidenzwert in einem Landkreis oder einer Region drei Tage unter 100 liegt. Steigt er über 100, sind Kitas schon am nächsten Tag wieder geschlossen. Lesen Sie auch Keine Lockerung in Hannover: Corona-Notbremse in Niedersachsen Wie sollten Eltern von Kita-Kindern, die jetzt erstmals wieder in eine Einrichtung dürften, da planen, fragte der Wolfsburger Oberbürgermeister. Auch Unternehmen könnten nur „mit bangem Blick“ auf die Inzidenzwerte öffnen. Mohrs ist sicher: „Die fehlende Perspektive, die unzureichende Verlässlichkeit und die mangelnde Transparenz werden das Vertrauen in die öffentliche Verwaltung stark beeinträchtigen.“ Die Oberbürgermeister forderten das Land auf, für verlässlichere Regeln und eine verlässlichere Kommunikation zu sorgen. Das derzeitige Wirrwarr „können und dürfen wir uns nicht mehr leisten!“ Von Michael B. Berger