Schweine in Niedersachen: SRY-Knockout kastriert Ferkel per Genschere

Fristen wurden verschoben, immer wieder gab es Bedenken. Unter welchen Bedingungen Ferkel kastriert werden sollten, ist seit langem – auch bei Verbrauchern – umstritten. Seit Anfang Januar gibt es in Deutschland eine gesetzliche Vorgabe, die Niedersachsen als Schweineland Nummer eins besonders betrifft: Ferkel dürfen nur noch unters Messer, wenn sie zuvor mit Vollnarkose betäubt werden. Corona erschwert allerdings noch die Umsetzung. Unterdessen entwickeln Forscher am Friedrich-Loeffler-Institut in Neustadt-Mariensee eine schmerzfreie Alternative per Genschere – doch auch die gefällt nicht jedem. Ebergeruch stört bisweilen: Wohlgeruch ist subjektiv. Eber machen mit ihrem Sexuallockstoff Sauen heiß. Der menschlichen Nase dagegen behagt der spezielle Duft im Fleisch der männlichen Schweine bisweilen nicht. „Schon die alten Römer haben deshalb Ferkel kastriert“, sagt Wolfgang Ehrecke von der niedersächsischen Landwirtschaftskammer. Längst ist die Kastration in der ersten Lebenswoche männlicher Schweine in der Schweinemast zum Routineeingriff geworden – bis vor kurzem oft ohne oder mit nur lokaler Betäubung. Es ist wie bei den Hühnern und bei den Rindern: Im Prinzip wünschen Landwirte sich für ihre auf Eiproduktion gezüchteten Hennen und auf Milchmenge gezüchteten Kühe weibliche Nachkommen. Für die Schweinemast sind ihnen Sauen am liebsten, denn die Eber sind im Stall aggressiver – und stinken eben bisweilen sogar noch in der Pfanne und auf dem Grill. „Die Natur legt es aber darauf an, dass beide Geschlechter ungefähr gleich verteilt sind“, sagt Björn Petersen vom Friedrich-Loeffler-Institut. Am Standort Mariensee in der Region Hannover hat der Tierarzt mit Kolleginnen und Kollegen eine molekularbiotechnologische Methode entwickelt, die Natur ein Stück weit zu überlisten. Dabei wird mithilfe von Proteinen eine Sequenz der Erbinformation von Schweinen herausgeschnitten. Angesetzt wird diese Genschere schon vor der Geburt, nämlich beim frühen Embryo – in der Zukunft möglicherweise bereits während der Spermaentwicklung. SRY-Knockout: Mit weiblichen Geschlechtsorganen geboren: Die Forscher haben ein Dutzend Schweine dabei genetisch so verändert, dass sie trotz eines männlichen Chromosomensatzes weibliche Geschlechtsorgane ausbilden. Dafür haben sie einen Teil des DNA-Bereichs auf dem Y-Chromosom entfernt, der für die Geschlechtsmerkmale verantwortlich ist (dieser wird als SRY bezeichnet – und so kamen die Tiere zu dem Namen „SRY-Knockout-Schweine“). Die so geborenen Tiere haben dann zwar ein X- und ein Y-Chromosom, wie ihre männlichen Artgenossen. „Äußerlich und innerlich sind sie aber erstmal nicht von weiblichen Tieren zu unterscheiden“, berichtet Petersen, der das Studienergebnis kürzlich in den renommierten „Proceedings“ der Nationalen Akademie der Wissenschaften der USA veröffentlicht hat. Mitarbeiterin Stefanie Kurtz hat ihre Promotion zum Projekt geschrieben. Sie hat die vor der Geburt manipulierten Schweine seit Beginn 2017 auf dem Gut Mariensee betreut und beobachtet. „Es ging ihnen allen gut“, berichtet sie. Bei Gesundheit und Futteraufnahme habe es keine Auffälligkeiten gegeben. Das Verhalten der Versuchstiere sei typisch weiblich gewesen „Ich konnte die Ställe betreten, ohne Angst zu haben, geschubst oder gebissen zu werden.“ Im Alter von neun Monaten allerdings sind die Geschlechtsorgane dieser Schweine deutlich kleiner, außerdem sind sie unfruchtbar. Ein mögliches Ziel dieser Grundlagenforschung könnte sein, das Y-Chromosom bei Ebern irgendwann so zu verändern, dass diese nur weibliche Nachkommen zeugen. Die Forscher in Mariensee – die mit der Methode auch der Humanmedizin Erkenntnisse liefern und daher auch mit der MHH zusammenarbeiten – sind sicher, dass eine Kastration mit der Genschere dem Menschen als Konsumenten nicht schaden kann. „Wir halten sie auch für ethisch vertretbar“, sagt Petersen. „Solche Mutationen kommen nämlich auch in der Natur vor.“ Es werde also keineswegs einer oft befürchteten Menschenzüchtung im Genlabor Vorschub geleistet. Allerdings spreche das Gentechnikgesetz derzeit gegen die Anwendung in der Landwirtschaft. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass mit Genscheren veränderte Organismen unabhängig von der jeweiligen Veränderung als gentechnisch veränderte Organismen einzustufen sind und damit unter das Gentechnikgesetz fallen. Auch deshalb versuchen Zuchtverbände parallel, mit klassischer Selektion solche Eber als Vererber zu bevorzugen, die mehr weibliche als männliche Nachkommen zeugen. Verbraucher skeptisch bei Eberimpfung: Der Tierschutzbund hält von Gentechnik in der Tierzucht generell nichts. „Die Tiere dürfen nicht durch Manipulationen dem Markt angepasst werden“, meint Landesvorsitzender Dieter Ruhnke. Nötig sei vielmehr ein Systemwandel weg von der Intensivtierhaltung. Der Verband setzt ansonsten auf ein schon länger mögliches Kastrationsverfahren: die Immunokastration, eine Zweifachimpfung junger männlicher Schweine. Diese entwickeln dann die Hormone gar nicht erst, die bei Ebern sonst den störenden Geruch auslösen können. Diese tierschonende Methode ist ausgereift und zum Teil auch im Einsatz. Doch die meisten Verbraucher haben Marktanalysen zufolge Sorge bei allem, was auch nur entfernt mit Hormonen zu tun hat – selbst wenn es wie in diesem Fall nicht um eine Hormongabe geht. Als wenig wirtschaftlich hat sich zudem die Ebermast ohne Kastration herausgestellt, bei der an den Schlachtbändern geschulte Spürnasen zum Einsatz kommen. So hat die Bundesregierung die Operation mit Vollnarkose schließlich zum Standard erklärt. Landwirte haben Zuschüsse für die Atemmasken enthalten, über die sie die Ferkel mit dem Gas Isofluran betäuben können. Die Landwirtschaftskammer (LWK) bietet seit Monaten Schulungen für die Bauern an, damit diese die Narkose kostengünstig ohne Tierarzt verabreichen können. Narkosegas mit Tücken: Rund 1700 sauenhaltende Betriebe gibt es in Niedersachsen. Wer Ferkel kastrieren will, und das tun auch Ökobauern, muss für einen Sachkundenachweis Schulungen und Prüfungen absolvieren. Das ist zum Schutz der bei der Prozedur auch mal zappelnden kleinen Lebewesen nötig – es könnte zu Wundheilungsstörungen kommen –, aber auch weil die Anwender sonst leicht selbst gesundheitsschädliche Gase einatmen könnten. Rund 1000 Landwirte und Landwirtinnen haben nach Angaben der LWK bisher den Theorieteil hinter sich, einige hundert den praktischen Teil. „Die Quote ist schon mal ganz gut“, meint Sprecher Ehrecke. Doch Corona hat einen Strich durch die ursprüngliche Planung gemacht. Zeitweise konnten die Schulungen nur in kleinen Gruppen stattfinden, im aktuellen Lockdown nun gar nicht mehr. Dabei plagen die Schweinehalter noch ganz andere Sorgen. Wieder einmal müssen sie Ställe um- oder neu bauen, weil Kastenstände nach und nach verboten werden. Gleichzeitig belastet sie weiterhin der Schweinestau, der durch Corona-bedingte Einschränkungen in Schlachthöfen ausgelöst wurde. Der Erzeugerpreis sank im vergangenen Jahr so drastisch, dass auch deshalb weitere Mäster den Betrieb aufgaben. Die Konkurrenz in Dänemark und anderen Ländern, die keine Narkose vor der Ferkel-OP vorschreiben, kann billiger produzieren. Aus Sicht der Landwirtschaftskammer bleibt abzuwarten, ob sich das in Mariensee entwickelte Verfahren in den nächsten Jahren so weit etablieren kann, dass es in den großen Besamungszentren zuverlässig angewendet werden könnte. Das sei momentan noch nicht abzuschätzen. Immer neue Methoden zur Kastration der Tiere werden entwickelt. Doch der Königsweg ist noch nicht gefunden. Von Gabriele Schulte