Zeitzeuge: „Das Rasseln der Panzerketten kündigte die Amerikaner an“

„Ich habe den Krieg bewusst miterlebt“, berichtet Zeitzeuge Rolf Ahlers. Er ist in Wendezelle geboren, aufgewachsen und lebt dort bis heute. Seit 1986 ist er ehrenamtlicher Gemeindeheimatpfleger von Wendeburg. Der regelmäßige Fliegeralarm während des Krieges ist die einprägsamste Erinnerung des 80-Jährigen. „Wir mussten dann alle immer in den Keller“, schildert der Wendezeller. Dort habe es ein Feldbett gegeben, in dem die kleinsten – dazu gehörte Ahlers – hineingelegt wurden, bis der Alarm vorüber war. Nach der Kapitulation wurden Soldaten der Alliierten aus Deutschland abgezogen. So kamen amerikanische Soldaten auf ihrem Heimweg durch Wendeburg. Lager der Amerikaner: „Wie die Amerikaner hier einmarschierten habe ich live beobachtet“, erzählt Ahlers, der im Sommer 1945 fünf Jahre alt war. Das Rasseln der Panzerketten habe er schon lange bevor die Soldaten nach Wendezelle hinein fuhren gehört. Heute weiß Ahlers, dass die Panzer der Amerikaner auf der Neuen Straße bis zur Straße Am Bülten vorrückten. „Aus Holzpfählen und Stacheldraht schlugen sie hier ihr Lager auf, in dem die Ortsgruppenleiter gefangen gehalten worden.“ Auf dem etwa 1800 Quadratmeter großen Ackerstück mussten die Gefangenen beim Aufbau helfen. Das Lager sei von einem Wachturm aus überwacht worden. „Kinder aus den Nachbarhäusern brachten den Gefangenen Lebensmittel und Wasser“, sagt Ahlers. Das habe die Wachmannschaft geduldet. Unter freiem Himmel wurden die Gefangenen dort festgehalten. Inzwischen sei es warm gewesen, die Sonne brannte auf die Männer herunter. „Einer, mit Glatze, legte sich immer sein Taschentuch auf den Kopf. Seine Haut verbrannte trotzdem“, weiß Ahlers noch genau. Überfälle durch Hunger: Während des Krieges wurden Wendeburg Zwangsarbeiter zugeteilt. „Auch nach dem Krieg waren die Fremdarbeiter hier“, erzählt Ahlers. Sein Vater sei Bäckermeister gewesen. Ein paar der Fremdarbeiter kamen am 10. April, ein paar Wochen nach der Kapitulation, in die Backstube. „Ich war dabei“, sagt Ahlers, der sich noch gut an diesen Tag erinnern kann. Die Männer hatten eine Flinte dabei und wollten Brot abgreifen, ohne zu bezahlen. „Mein erschrockener Vater sagte nur: Sie können wiederkommen, wenn das Brot fertig ist – und ohne Gewehr“, berichtet der 80-jährige Wendezeller. Das taten sie dann auch. Ansonsten sei das Zusammenleben mit Fremdarbeitern größtenteils friedlich abgelaufen. Ob Deutscher oder Ausländer – davor machte die Lebensmittelknappheit keinen Halt: „Essen war bei allen knapp, wir hungerten gemeinsam“, sagt Ahlers. Dynamo als Notlicht: Regelmäßig gab es in Wendeburg Stromsperren. „Im Wohnraum wurden dann Kerzen oder Petroleumlampen als Notbeleuchtung genutzt“, erklärt Ahlers. Der Betrieb in der Familienbäckerei durfte nicht stillstehen. Sein Vater, der Bäckermeister, brauchte aber Licht, um den mit Holz und Kohle betriebenen Backofen zu befeuern. „Für das Notlicht hatte mein Vater ein Fahrrad auf den Kopf gestellt, den Dynamo auf das Hinterrad umgebaut und dann musste jemand an einer Pedale kurbeln, um Strom zu erzeugen“, schildert Ahlers. Maismehl statt Weizenmehl: „Nach Ende des Zweiten Weltkriegs verteilten die Amerikaner Lebensmittel an uns“, erklärt Zeitzeuge Ahers. In dieser Zeit habe es aufgrund der sprachlichen Barriere zwischen den Deutschen und den Amerikanern Missverständnisse gegeben. „Korn wurde für die Backstuben angefordert – die Amerikaner haben natürlich das englische Wort Corn verstanden“, erzählt Ahlers. So lieferten sie Mais nach Rothemühle in Schwülper. „Darüber waren dann alle verdutzt: Mit Maiskörnern fütterte man eigentlich nur die Schweine“, erzählte Ahlers. Trotzdem sei der Mais gemahlen und an die Bäckereien geliefert worden. „Für eine Weile gab es auch bei uns in der Backstube gelbes Brot, das lag schwerer im Magen als Weizenbrot“, erinnert sich Ahlers. Mutter allein für Hofbetrieb zuständig: „Das Essen war überall knapp, auch bei uns“, sagt Zeitzeuge Wilhelm Ebermann aus Meerdorf. Seine Familie wurde von der Behörde als Selbstversorger eingestuft. „Wir hatten einen Hof und das war zu der Zeit sehr von Vorteil“, erläutert der Meerdorfer Zeitzeuge. Lebensmittelmarken habe seine Familie aber auch gehabt. Die konnten beispielsweise für Nudeln eingetauscht werden. „Uns wurde genehmigt, Hausschlachten durchzuführen, damit konnten wir uns selbst versorgen“, sagt der Meerdorfer Zeitzeuge. Ansonsten gab es ausreichend Obst und Gemüse auf dem Hof der Ebermanns. Während des Krieges seien Fremdarbeiter auf dem Hof aufgenommen worden. „Unser Hausmädchen kam aus Russland und hat meine Mutter unterstützt, wo sie konnte“, erzählt Ebermann. Seine Mutter musste den Hof ganz allein betreiben. Zwangsarbeit auf Feldern: Im Spätsommer mussten Kartoffeln gerodet werden. Nicht nur Fremdarbeiter, sondern auch die Nachbarn halfen dabei. Im Gegenzug wurde alle Helfer ausreichend verpflegt: „Während der Ernte wurde eine Pause gemacht, in der Brote und Kaffee verteilt wurden“, sagt Ebermann. Zuckerrüben seien ebenfalls angebaut worden. Aus den Rüben stellten die Familie Sirup her. „Wir haben die Zuckerrüben zerkleinert, gekocht, gepresst und dann so lange gekocht bis das ganze dickflüssig wurde“, schildert Ebermann. Das habe es dann jeden Morgen auf’s Brot gegeben. „Wir hatten zwei Bäcker im Ort, da sind wir immer hingefahren – eine Zeit lang gab es auch Maismehlbrot, das sah sehr gelblich aus“, erinnert sich Ebermann genau wie Ahlers. Tauschhandel: Schmuck gegen Mettwurst: „Ich habe den Schwarzhandel nur bei anderen mitbekommen: Gehandelt wurde mit Zigaretten, Schmuck wurde manchmal gegen Kartoffeln getauscht. Da sind manche Leute aus der Stadt zu uns gekommen, um Lebensmittel zu bekommen, weil sie nicht genug hatten“, so Ebermann. In der Stadt sei es schwieriger als auf dem Land gewesen, an Lebensmittel zu kommen. Er erinnert sich noch daran, dass eines Tages ein Mann aus Peine kam und auf einem Hof eine Uhr gegen eine Mettwurst tauschte. „Die waren dann froh, dass sie was zu Essen bekommen hatten. Das ging bis zur Währungsreform so.“ Vermisster Vater nach Kriegsende: „Meinen Vater habe ich kaum gesehen, da er 1941 eingezogen wurde“, erzählt der Meerdorfer, der damals gerade mal fünf Jahre alt war. Ein paar Jahre später, 1944, wurde sein Vater im Einsatz in Rumänien verwundet und erkrankte. Nachdem er im Lazarett in Wien gewesen war, kam er für vier Wochen nach Hause. „Das war die längste Zeit, die ich ihn gesehen habe“, sagt Ebermann. Kurze Zeit nachdem er genesen war, musste er wieder in den Einsatz. Gegen Ende des Kriges 1945 war seine Truppe auf dem Rückzug. „Dabei wurde er dann für vermisst erklärt“, sagt Ebermann. Niemand konnte sagen, was mit ihm geschehen war. Nach der Kapitulation wurde der Vater als vermisst gemeldet. Erst ein Jahr später, 1946, erfuhr die Familie Ebermann durch das Deutsche Rote Kreuz, dass der Vermisste gestorben war. „Mein Vater wurde nur 41 Jahre alt – das Fahrzeug, auf dem er beim Rückzug mitgefahren sei, wurde von einer Bombe getroffen“, sagt Ebermann. Und daraufhin habe seine Mutter ihn, datiert auf Ende 1945, für tot erklärt. Kleidung aus Sackleinen, Obst aus Nachbars Garten und das erste Kaugummi: Die Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren eine besondere Zeit. Aber auch eine Zeit, über die es kaum Aufzeichnungen gibt, von Fotos ganz zu schweigen. Darum wollen wir die Erinnerungen, die die Menschen im Peiner Land an den Sommer nach dem Krieg noch haben, sammeln und bitten Sie, unsere Leserinnen und Leser, um Beiträge. Haben Sie die Zeit nach April 1945 als Kind oder gar Jugendlicher miterlebt und erinnern sich an die Lebensumstände, den Alltag, besondere Ereignisse? Haben Sie möglicherweise sogar Fotos aus jenen Tagen, die zeigen, wie es sich damals in Peine oder einer der Kreisgemeinden lebte? Dann schreiben Sie uns eine E-Mail mit dem Betreff „Sommer nach dem Krieg“ an redaktion@paz-online.de. Schildern Sie uns Ihre Geschichte, und wenn Sie Fotos haben, scannen Sie sie bitte ein oder fotografieren sie digital ab – wir bitten Sie herzlich, uns keine Originale per Post zu schicken, da wir nicht die Verantwortung für so wichtige persönliche Schätze übernehmen wollen. Aus Ihren Erlebnissen werden wir weitere Beiträge für die gedruckte PAZ und für unser Digitalangebot unter paz-online.de anfertigen. Und damit das Bild der Monate vor 75 Jahren weiter abrunden – damit auch diejenigen vom Sommer nach dem Krieg erfahren, die diese Zeit voller Entbehrungen, aber auch voll lange vermisster Freiheit nicht selbst miterlebt haben. Lesen Sie auch: Verbotene Tauschgeschäfte und eine deutsch-britische Liebe fürs Leben Groß Ilsede 1945: „Jeder Fleck Erde wurde zum Anbau von Gemüse genutzt“ So erinnern sich Edemisser an den Sommer nach dem Krieg Edemissen 1945: Die Einwohnerzahl explodiert Als die Amerikaner mit „einer endlosen Kolonne“ in Vöhrum einzoge n Ortsheimatpfleger: „Mir fehlen oftmals die Fakten“ Vor 75 Jahren in Peine: „Wir waren frei, die Straße gehörte uns“ Peine nach dem Krieg: Das öffentliche Leben stand still „Sommer nach dem Krieg“: Die große PAZ-Serie Von Nathalie Diana

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